Bei dem Objektiv-Namen „ULTRON“ bekommen die meisten Liebhaber historischer Kameraobjektive eine Gänsehaut: Optik aus der Rechenstube von W.A. Tronnier – aus seinem XENON abgeleitet, das ein perfektioniertes Planar-Design (Doppel-Gauß) ist.
Auffallend ist die goße Linse mit konkaver Frontfläche – aber ist es wirklich ein ULTRON?
Das moderne, für Digitalsensoren berechnete und mit asphärischer Linse ausgestattete Objektivdesign ist ein „Zitat“ des Tronnier’schen Ultron 50mm f/1.8 für die Icarex von 1968.
Auffälligster Bestandteil der Anlehnung an das Icarex-Ultron ist die konkave Frontlinsen-Vorderfläche – seinerzeit ein erstmaliges – danach lange Zeit ein sehr seltenes Design! Derzeit ist das allerdings keine Seltenheit mehr: Zeiss, Sony und Leica haben in den letzten Jahren sehr viele Optiken mit konkaver Frontlinse heraus grebracht – mit hervorragenden Ergebnissen.
Ausgerechnet das wichtigste Merkmal, das ein Planar oder Xenon zum „Ultron“ macht, fehlt bei dem neuen Voigtländer-Design: die Aufspaltung einer der beiden inneren verkitteten Doubletten (im Original der vorderen Doublette!) des Doppel-Gauss … und darüber hinaus die typische Tronnier’sche Verschlankung der dabei entstehenden Einzellinsen in eine dünnere Menisken-Form. Beim neuen Ultron 35 mm fehlt dieses Merkmal völlig – und damit ist das Objektiv nach unserem traditionellen Verständnis keinesfalls ein „Ultron“. Aber wer will der Firma Cosina das Recht absprechen, mit einem fast schon kultisch gehypten Namen (an dem Cosina die Rechte hat!) Marketing-Erfolge zu erzielen – solange etwas Gutes dabei heraus kommt … und das Ergebnis ist hier exzellent!
Mit dem LM-Bajonett ausgerüstet ist es maßlich für Leica-RF basierte Kameragehäuse konstruiert – und daher vermutlich für relativ dünne Filterstacks vor dem Sensor. Das ist bekanntlich eine schlechte Nachricht für Nutzer von Sony A7-Kameras, deren Filterstacks bei 2 mm Dicke liegen. Zu erwarten ist dabei, dass die Auflösung bei voller Öffnung am fernen Rand und in Ecken miserabel sein wird – und ja: sie ist es. Das Objektiv, das im Zentrum auch bei dieser 60MP-Kamera die Nyqist-Frequenz (3.168 LP/PH) schon bei voller Öffnung locker „überfliegt“, startet „nackt“ an die Sony A7R4 adaptiert bei miserablen 513 / 515 Linienpaaren je Bildhöhe bei f/1.7 und f/2.0. Das war zu befürchten – und deshalb hatte Fotofreund Klaus das Exemplar, das er mir für diese Messungen geliehen hat, bereits mit dem sogenannten „PCX-Filter“ ausgestattet: eine einfache plankonvexe Vorsatzlinse – in diesem Falle mit 5 Metern Brennweite.
Das Ergebnis: Die Auflösung beginnt auch in den Ecken bei Offenblende um die 900 LP/PH – das sind nach alter Väter Sitte immerhin dann schon 75 Linien/mm !
Sehen wir uns die vollständigen IMATEST-Messergebnisse an:
a) Das „nackte“ Ultron 35mm f/1.7 an der Sony A7RIV:
Zunächst die Auflösung über den Blendenwerten aufgetragen:
Erkennbar ist die schwache Offenblenden-Leistung in den Ecken (>75% des Bildkreises) bei sonst sehr guter Performance. „part way“ ist die gesamte Bildfläche zwischen 30% und 75% des Bildkreises.
Aber wie steht es mit den anderen wichtigen Eigenschaften des Objektivs wie Kantenschärfe, Verzeichnung und Chromatische Aberration?
Auflösung in der Bildmitte und „edge sharpness“ (Kantenschärfe) hängen eng zusammen – und sind bei diesem Objektiv exorbitant!
Das sensationellste ist aber die Verzeichnung, die hier ja sicher „natur-pur“ für die Optik steht, da ja kein Korrektur-Algorithmus „eingreifen“ kann: Kamera und Objektiv haben keine Beziehung zueinander! Wenige hundertstel Prozent und dann noch „Moustache“, also keine eindeutige Linienkrümmung – das ist „NULL“ Verzeichnung – jedenfalls bei der Meßentfernung von ca. 1,2 Metern.
Die C-A in der Bildmitte ist auch an der Sony ordentlich – beginnend bei Offenblende knapp über ein Pixel am Bildrand – da sind dann bei 400% schon deutliche Farbsäume zu sehen:
In der Bildmitte sehe ich nur einen leichten gelb-rötlichen Schimmer verursacht durch die erkennbare Aufspaltung der RGB-Kurven im Hell-Dunkel-Übergang., aber keinen Farbsaum:
b) Das VM Ultron 35 mm f/1.7 an der Sony A7RIV mit vergüteter (plano-konvexer) PCX-Vorsatzlinse mit 5 Meter Brennweite (PCX-5m)
Die Sammel-Linse soll dabei die objektseitige Wellenfront so deformieren, dass die Bildfeldkrümmung, die durch den dicken Filterstack der Sony-Kamera an Rand und Ecken erzeugt wird, kompensiert wird.
Dieser Effekt tritt tatsächlich ein, allerdings wird die gesamte Bildfläche von der Korrekturlinse beeinflusst – wir sehen uns an, was da passiert. (Nicht zu vergessen, dass wegen der positiven Vorstzlinse nur dann noch auf Unendlich fokussiert werden kann, wenn der Adapter zur Kamera im kürzesten Auflagemass flacher gemacht werden kann bzw diese Reserve schon besitzt …)
Die Auflösungen bei offener Blende und den folgenden Stops ist in Ecken und „part-way“ (in den Ecken auch generell über die gesamte Blendenreihe!) deutlich angehoben bei 1.7/2.0 auf fast das Doppelte!
Gleichzeitig sinkt die Auflösung im Zentrum etwas – und auch in der folgenden Tabelle sieht man, dass die Kantenschärfe etwas geringer wird – aber immerhin wird in der Bildmitte immer noch von Bl. 2.0 – 8.0 die Nyquist-Auflösung des A7R4-Sensors erreicht oder übertroffen.
Die „edge sharpness“ ist leicht verringert, die Verzeichnung immer noch überirdisch gut, wenn auch nicht mehr „Moustache“ sondern generell „pincushion“, dagegen ist die Chroma (am Bildrand!) deutlich verringert:
Beide Äste der radialen C-A-Kurven sind flacher als in Fig. 6 – besonders auffällig ist das aber bei der roten Kurve!
Tatsächlich ist bei allen meinen Messungen mit der PCX-Korrektur-Vorsatzlinse der gleiche Effekt zu sehen: die Chroma an Rand/Ecken ist damit deutlich reduziert – und damit geht die Verbesserung der Auflösung dort einher!
Stellen wir uns vor, wie die sehr schrägen bildseitigen Strahlen auf den dicken Filterstack (dessen optische Wirkung in der Objektiv-Berechnung nicht berücksichtigt wurde/werden konnte!) auftreffen: die Strahlen werden gebeugt – aber auch im Sinne eines Prismas spektral unterschiedlich abgelenkt (https://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Prism-rainbow-black.svg).
Damit liegt für mich der Schluss nahe, dass die eigentliche Wirkung der PCX-Linse darin liegt, dass der Farbfehler, den die einfache vorgesetzte Linse unweigerlich hat, den von der planen Filterplatte an Rand und Ecken erzeugten prismatischen Farbfehler kompensiert. Wie wir sehen, nicht vollständig – aber in der Praxis sehr wirksam! Das bedeutet, dass andere Glassorten in der PCX-Linse (hier ist es wohl BK7) noch Optimierungsmöglichkeiten enthalten würden.
Aber vergessen wir bitte nicht: es ist ja eine einfache, sehr preiswerte d.h. pragmatische Maßnahme, die in der gleichen Größenordnung wirken kann, die ein dünnerer Filterstack bewirkt!
Sehen wir uns hier abschließend noch die C-A in der Bildmitte am Hell-Dunkel-Übergang an:
Auf der hellen Seite sieht man eine leichte Verbesserung zu Fig. 7 – auf der dunklen eine gewisse Verschlechterung, wobei diese Abweichungen in den RGB-Strahlen im Bild auch bei hoher Vergrößerung praktisch nicht zu sehen sind. Ab Bl. 4 kommen die drei RGB-Linien dann praktisch perfekt zur Deckung!
Die Ergebisse zeigen damit Fotofreund Klaus, dass seine Kombi aus Ultron 35 mm f/1.7 und PCX-Vorsatzkorrektor-Linse ein fabelhaftes Gespann ist, und er weiß jetzt warum er damit bisher schon so glücklich war…
Ich habe auch praktische Aufnahmen mit der A7R4 mit der Kombination gemacht und kann die Messungen absolut bestätigen – vor allem liefert sie großartige Sonnensterne, die Klaus ja so liebt!
Fig. 12: Gegenlichtbild mit Sonnenstern VM ULTRON 35mm f/1.7 an A7R4 mit PCX-5m Vorsatzlinse – Quelle: fotosaurier
AKTUALISIERUNG:
Nachdem es mir in den letzten Monaten gelungen ist, Analog-Aufnahmen auf Film ebenfalls mit der IMATEST-Software zu analysieren (Grundsatzartikel hier!), kann ich nun noch hinzufügen, wie das Auflösungsvermögen des ULTRON 35mm f/1.7 auf Film im Vergleich zu den Aufnahmen direkt auf dem Sony-Sensor ist – dies ist sozusagen „die Wahrheit“ über das Objektiv, denn hierfür ist es konstruiert worden:
Fig. 13: Auflösungsvermögen des Ultron 35mm f/1.7 auf Analog-Schwarzweiß-Film Agfa APX100. Kamera: Minolta CLE. Die blaue Linie bei 2.360 LP/PH repräsentiert die Nyquist-Frequenz des verwendeten Film-Scanners RPS 10M – Mehrfachscan mit 5.000 ppi, entsprechend ca. 33 Megapixel im ganzen Bildrahmen – Quelle: fotosaurier
Hier erkennen wir, dass das Objektiv eine sehr gleichmäßig hohe Auflösung beginnend schon bei voller Öffnung über den gesamten Blendenbereich liefert – wobei die höchste Auflösung in der Bildmitte ähnliche Werte erreicht wie der Sensor der Sony A7R4 mit 61 Megapixeln. Natürlich wird das mit relativ hohen (aber nicht extremen!) Schärfungsparametern (USM) erreicht – die Kontrolle von „real world-Fotos“ auf demselben Film zeigte dann aber noch keine Schärfe-Artefakte!
Besonders auffallend ist die hohe Auflösung in den Bildecken bereits bei voller Öffnung. Deutlicher zu sehen in der folgenden vergleichenden Zusammenstellung:
Fig. 14: Ultron 35mm f/1.7 Auflösungskurven an Sony A7R4 (Nyq-Fr 3.168 LP/PH) – grün+grau+gelb – und auf Analogfilm Agfa APX100 gescannt bei 5.000 ppi (Nyq-Fr 2360 LP/PH) – rot+magenta+blau – Quelle: fotosaurier
Hier wird sehr deutlich, dass die Eckenauflösung am Digitalsensor (gelbe Kurve, ohne PCX-Vorsatzlinse) dramatisch gegenüber der Performance auf dem Film (hellblaue Kurve) „abstürzt“ – eindeutig keine Schwäche des Objektivs, sondern ein Artefakt durch einen ungünstigen Lichteinfall auf den Sensor im Eckenbereich. Ich bin ziemlich sicher, dass das verursacht wird durch laterale CA, die an dem sehr dicken Filter-Stack der Sony A7R4 vor dem Sensor.
Im Bildzentrum erscheint die Auflösung am Sensor deutlich höher zu sein im Vergleich zum Analog-Film. Hier bin ich allerdings vorsichtig mit der Deutung, denn die Ausrichtung der Rangefinder-Kamera ist sehr problematisch, da man keinerlei Hilfen im Sucherfenster dafür hat – und eine gute Optik erreicht ihre optimale Leistung beim Fokussieren mit dem Entfernungsmesser einer beliebigen Kamera (hier der Minolta CLE) nur nach präziser Justage dieses spezielle Objektivs auf diese spezielle Kamera!
Durch die PCX-Vorsatzlinse an der Sony-Digicam wird diese Schwäche nur zum Teil ausgeglichen (s. Fig. 8). Da ich erwartete, dass ein wesentlich dünnerer Filterstack hier bessere Ergebnisse mit Digitalsensor ermöglicht, habe ich mir eine
Nikon Z7 II
geliehen, die bekanntlich einen weniger als halb so dicken Filterstack besitzt, und damit das VM Ultron 35mm f/1.7 durchgemessen.
Zuerst ohne PCX-Filter:
Fig. 15: Auflösungskurven des VM Ultron 35mm f/1.7 an der Nikon Z7 II mit 45,4 Megapixel und dünnem Filterstack – Quelle: fotosaurier
Der Abfall in den Ecken ist relativ gesehen geringer. Hier beseitigt das PCX-Filter dann den Eckenabfall der Auflösung vollständig:
Fig. 16: Auflösungskurven des VM Ultron 35mm f/1.7 MIT PCX-Vorsatzlinsean der Nikon Z7 II mit 45,4 Megapixel, die blaue Linie entspricht der Nyquist-Frequenz von 2.752 LP/PH – Quelle: fotosaurier
Allerdings wird hier ein sehr spezielles Problem der Nikon Z7 II (genau gleich bei der Vorgängerin Z7) sichtbar:
Bei noch vertretbarer Schärfung bleibt die Auflösung des Sensors deutlich unterhalb des Nyquist-Frequenz für die 45,4 MP. Tatsächlich messe ich exakt die gleichen Auflösungswerte, wenn die Kamera intern auf 25,6 MP umgestellt wird.
Auf (mehrfaches) Fragen an Nikon, warum das so ist, erhielt ich bisher keine Antwort.
Anhand der MTF-Mess-Kurven dieser Kamera konnte ich mir selbst die Erscheinung erklären:
Dies ist die MTF-Kurve der Nikon ZII mit dem VM Ultron 35mm:
Fig. 17: MTF-Kurve mit VM Ultron 35mm f/1.7 bei f/2.0 an der Nikon Z7 II – Quelle: fotosaurier
Hier sieht man, dass Nikon die MTF-Kurve (für JPEG-Bilder ooc) so beeinflusst, dass der Kontrast bei NIEDRIGEN Frequenzen stark erhöht ist – das (vorläufige) Minimum aber (dann zwangsläufig?) genau bei der Nyquist-Frequenz (2.752 LP/PH entspr. der Sensorgröße von 45,4 MP) liegt. Es beträgt dort dann 10-20%. Das heißt, dass MTF30 nie auch nur annähernd bei der Nyquist-Frequenz liegen kann. Aber bei höheren Frequenzen deutlich über der N.-Fr. kann der Kontrast dann wieder über 30% steigen. Ist das Aliasing? Ich habe versucht diesen Effekt mit dem Siemensstern sichtbar zu machen – bisher ohne Erfolg.
Diese Form der MTF-Kurve ist bei allen Optiken an der Nikon Z 7II ähnlich – auch bei typischen SLR-Optiken!
Zum Vergleich hier die MTF-Kurve an der Sony A7R4:
Fig. 18: MTF-Kurve mit VM Ultron 35mm f/1.7 bei f/2.0 an der Sony A7R4 – Quelle: fotosaurier
Hier liegt das Minimum der MTF-Kurve weit oberhalb der Nyquist-Frequenz. Es findet auch keine starke Kontrast-Überhöhung bei niedrigen Frequenzen statt.
Ähnliche MTF-Kurven liefern fast alle mir bekannten Digicams (Leica M11, Fuji X und GFX). Die Nikon Z7 II ist hier die absolute Ausnahme.
Offensichtlich will der Hersteller Nikon seinen Nutzern dieses besondere Kontrastübertragungs-Verhalten von Out-Of-Camera Bildern ja bieten, bei dem ein deutlich überhöhter Kontrast bei niedrigen und mittleren Bildfrequenzen entsteht – unter Verzicht auf die technisch mögliche Sensorauflösung – immerhin von über 20%!
Aber warum erklärt der technische Kundendienst in Dresden das dann nicht, wenn man gezielt nachfragt.
Ich werde abschließend noch einmal der Frage nachgehen, wie die Situation sich beim Arbeiten mit RAW-Dateien bei der Nikon zeigt. Die Erkenntnisse werde ich dann hier ergänzen
© fotosaurier
Herbert Börger, Berlin, September 2022 / November 2023