Beim „Neustart“ der Foto-Objektiv-Produktion direkt nach dem 2. Weltkrieg lag die Rand-/Ecken-Auflösung typischer Objektive für das Kleinbildformat im Bereich von 300 … 400 … 500…600 Linienpaaren je Bildhöhe von 24 mm (entsprechend ca. 25 … 32 … 40 … 50 Linien/mm), während diese Objektive in der Bildmitte (auch bei Offenblende) über 3.000 LP/PH liefern können. („Bildhöhe“ engl. „picture height“ – daher LP/PH in der IMATEST-Software!) Bei den damals neuen Retrofokus-Weitwinkelobjektiven konnten bei offener Blende die Auflösungswerte in den Ecken auch bei 200 LP/PH oder darunter liegen (entspr. 17 Linien/mm).
Das sind nüchterne Zahlen – der Fotograf „denkt“ aber in Bildstrukturen! Ihn interessiert, was er SIEHT.
Was bedeutet dieser Auflösungsabfall von der Bildmitte zu Rand/Ecke für die praktische Fotografie?
Zunächst möchte ich dieser Frage an reproduzuierbar verfügbaren ebenen Bildstrukturen in einem Testbild für Auflösungsmessungen nachgehen, in dem man außer dem allgemeinen Schärfeeindruck auch Erscheinungen wie (Rest-)Astigmatismus und Farbfehler beurteilen kann.
40 L/mm am Rand galten bei Fotoobjektiven der 1950/60er Jahre bereits als „sehr gut“. In den 50er Jahren erreichten Objektive nach den Stand der Technik am Rand ganz selten Werte über 50 … 60 Linien/mm nach den damaligen Tests auf üblichen, feinkörnigem und normal bildgebenden Filmemulsionen, wie sie auch vom Normal-Fotografen verwendet wurden. In der Bildmitte gemessen erreichte die „analoge“ Kombination Objektiv/Film selten Werte oberhalb 90 L/mm. Auf Spezial-Platten mit hoch-auflösenden Emulsionen – ausgewertet unter dem Mikroskop – konnte man aber auch damals durchaus bis zu 500 Linien/mm messen, was „digital“ 6.000 LP/BH entsprechen würde.
Der Bild-Sensor in der hier verwendeten Sony A7Rm4 erreicht 3.184 LP/PH (60,2 MP).
Schon in den ersten 25 Jahren des 20.Jh. konnte mit den ausgereiften Anastigmaten in der Bildmitte („axial“) praktisch „beliebig hohe“ Auflösungen erreicht werden und es standen dafür auch geeignete Glassorten zur Verfügung. Man betrachte die mit IMATEST ermittelte Auflösungskurve (über dem Bildradius aufgetragen) des 1923er Ernostar 100mm f2.0 bei nahezu voller Öffnung (f2.8) an der 60MP-Sony-Kamera:
Es ist ein 4-Linser mit vier einzel stehenden Linsen – ohne Vergütung! Dafür erscheint Kantenprofil und MTF-Kurve sehr gut. Aber die Auflösungskurve über dem Abstand von der Bildmitte (100% auf der Abszisse entsprechen einem Bildkreis von 21,5mm Radius!) zeigt einen beängstigenden „Absturz“ von über 2.600 LP/BH auf ca. 300 LP/PH an Rand/Ecken!
Hier die Situation dreißig Jahre später – dazwischen liegt der 2. Weltkrieg:
Die deutlich größere Verbesserung gegenüber dem Ernostar zeigt sich erst abgeblendet:
zwar hat sich das Ernostar noch einmal auf olympische 3.000 LP/PH in der Mitte gesteigert (was 93% der Nyquist-Frequenz der verwendeten Kamera entspricht!) aber am Rand bleibt es bei 700-800 LP/PH (allerdings: immerhin verdoppelt).
Das Angénieux 90mm f2,5 erreicht nun aber über die gesamte Bildfläche gemittelt 2.789 LP/PH.
Machen wir noch einmal einen Sprung 30 Jahre weiter in das Jahr 1987. Die Entwicklung neuer, leistungsfähiger Glastypen hat nun weltweit neue Voraussetzungen geschaffen und war die Voraussetzung für das folgende typische Ergebnis am Beispiel einer anderen Optik-Legende:
Dank der neuen Gläser ist das Apo-Macro-Elmarit nun „offenblendentauglich“ – obwohl Kantenprofil und MTF-Kurve in der Bildmitte sehr ähnlich den Kurven des über 60 Jahre älteren Ernostar 100mm f2,0 sind! Abgeblendet, bei optimaler Blende (5,6) ist der Mittelwert der Auflösung über das gesamte Bildfeld des Apo-Macro-Elmarit (2.907) dann gerade mal 120 LP/PH höher als der Wert des „ollen“ Angénieux – und die Maximal-Auflösung des Apo-Macro-Elmarit in der Bildmitte ist abgeblendet nicht höher als beim Ernostar ….
Noch eine für seine Entstehungszeit sehr bemerkenswerte Eigenschaft des Angénieux 90mm f2.5 sticht hervor – der sehr niedrige Farb-Fehler (CA):
Auf sehr geringen Niveau ähnlich Apo-Macro-Elmarit bei blau, dreifach so groß bei rot! Aber immer noch ein Drittel vom Contarex-Sonnar 85mm – zehn Jahre später. Einen Kompromiss musste Angénieux aber seinerzeit offensichtlich eingehen, um das zu erreichen: eine relativ hohe Verzeichnung von -1,2% gegenüber +0,4 beim Ernostar und +0,17 beim Apo-Macro-Elmarit.
Man kann also sagen:
der Fortschritt in der optischen Technologie lieferte für die Foto-Objektive überwiegend verbesserte Randauflösung bei Offenblende bei gleichzeitig verbesserter Farbkorrektur, Verzeichnung und erhöhtem Kontrast und verbesserter Streulichtresistenz bei niedrigen Frequenzen – letzteres nicht zuletzt durch die dramatisch verbesserte Beschichtungs-Technologie.
In diesem Link finden Sie Vergleiche des Angénieux 90mm mit weiteren Objektiven über den gesamten Zeitraum 1923 – 2015.
Ich schließe aus meinen vielen Messungen an historischen Objektiven aller Epochen, dass man ab Anfang der 1970er Jahre, den extremen Randabfall der Objektive bei Offenblende schrittweise reduzieren konnte – bereits 1977 gibt es ein Beispiel eines quasi „Ideal-Objektivs“ im Bereich Kurztele (Porträt): das VivitarSerie1 90mm f2,5 Macro! (Mit Einschränkung bei der Streulichtfestigkeit…)
Bei wesentlich größeren Bildwinkeln war das natürlich wesentlich schwieriger und gelang bei Weitwinkelobjektiven entsprechend später mit immer höher- und niedriger-brechenden Gläsern – und im Extremfall (großer Bildwinkel und hohe Lichtstärke) zuletzt erst mit dem Einsatz asphärischer Linsen.
Was bedeuten aber nun die niedrigen Rand-Ecken-Auflösungen bei den frühen historischen Optiken in den Bildstrukturen?
Fangen wir mit einer reproduzierbar beleuchteten, ebenen Objekt-Situation an, in der wir auch diese Auflösungswerte messen: dem detailreichen Test-Chart, das wir abfotografieren. Die Beschreibung der Testmethode finden Sie in diesem Link.
Das ist das Test-Bild, hier durch das Angénieux 90mm f2.5 bei voller Öffnung fotografiert.
Der Abstand zwischen den oberen und unteren schwarzen Balken ist 783 mm im Original.
Die Analyse-Software von IMATEST verwendet übrigens nicht die kleinen Rosetten, die in die dunklen Quadrate eingebettet sind, sondern die Seitenkante der Quadrate, die um 5.71° VERDREHT sind. Mehr erfahren Sie in dem oben aufgeführten Link.
Das Übersichts-Bild soll Ihnen ein Gefühl davon vermitteln, wie fein die Rosetten-Details sind, wenn man ein Bild im normalen Betrachtungsabstand ansieht.
Hier das Detail eines Quadrates mit Rosette in einer Größe, die der Betrachtung des mit der 60MP-Kamera aufgenommenen Bildes bei „100%-Betrachtungsmaßstab“ entsprechen würde (d.h. 1 Bildschirmpixel entspricht 1 Kamerapixel) – wenn Sie das Quadrat auf Ihrem Bildschirm mit ca. 22cm Kantenlänge sehen.
Dies ist das Quadrat genau im Zentrum:
Folgend nun der entsprechende Ausschnitt in der oberen-rechten Ecke (wegen der sichtbaren Verzeichnung von -1,2% sind die Qadrate in der Mitte und in der Ecke nicht genau gleich groß!):
Die Vignettierung (im Mittel über alle Ecken 2 f-stops) hat hier natürlich noch einen bedeutenden Einfluss auf das visuelle Betrachtungsergebnis! Es fällt allerdings sofort auf, dass trotz der hohen Vergrößerung fast keine Farbsäume zu sehen sind – allenfalls ein sehr kleiner roter Schimmer, wie vom CA-Diagramm zu erwarten ist.
Das folgende Bild zeigt dasselbe Detail, auf das ich nun die Vignettierungs-Korrektur von ca. zwei Blendenwerten angewendet habe, wie man Sie mit Photoshop oder als kamerainterne Korrekturmaßnahme durführen könnte:
Hier erkennt man drei Dinge:
- Die 560 LP/PH-Auflösung liefern tatsächlich noch klare Bildstrukturen – wenn auch „weicher“
- Die Farbreinheit der Abbildung bestätigt sich – allerdings erkennt man einen leichten generellen Gelbstich hier in der Bildecke
- Man erkennt sogar den Unterschied zwischen ca. 400 LP (meridional) und ca. 600 LP (sagittal) in den Rosetten-Details: die Ringe sind in der Bild-Diagonale von links oben nach rechts unten erkennbar „kantenschärfer“!
Die Struktur ist „weicher“ wiedergegeben – aber dennoch deutlich und mit gutem Kontrast sichtbar.
Beachten Sie bei diesen Bildern bitte: es handelt sich um die 100%-Darstellung des 60 MP-Bildes!
Anmerkung: In Imatest-Diagrammen wird der angelsächsischen Nomenklatur folgend „meridional“ meist als „tangential“ bezeichnet (tangential = meridional) diese Kuven sind durchgehend gezeichnet, die sagittale Auflösungskurve gestrichelt. In MTF-Diagrammen der Fa. Zeiss ist die Zuordnung umgekehrt: gestrichelt meridional und durchgezogen für sagittal
Kritischer ist diese Situation bei Weitwinkel-Objektiven, bei denen Farblängsfehler und Astigmatismus an Rändern und Ecken eine deutlich größere Rolle (wegen der viel größeren off-axis-Winkeln) spielen.
Wir betrachten das folgend an von 24/25mm-Retrofokus-Objektiven „der ersten Stunde“ (1957/71):
Angénieux wahrte seinen zeitlichen Vorsprung konsequent und brachte seine „Retrofocus“-Weitwinkel-Brennweiten in schneller Folge auf den Markt: 35mm f2.5 in 1950 (6-Linser) vorgestellt und in kleinen Mengen geliefert (ab 1953 Großserie!), 28mm f3.5 (6-Linser) ebenfalls ab 1953, 24mm f3.5 (8-Linser) ab 1957. (Besonderheit: danach wurde von Angénieux niemals wieder eine Neuberechnung dieser Foto-Optiken herausgebracht sondern diese Optiken bis 1971 unverändert geliefert und das Segment der Festbrennweiten dann völlig eingestellt.
Bei diesen frühen Weitwinkel-Objektiven ist bei Offenblende die Auflösung noch deutlich niedriger als bei dem 90er Objektiv. Bei dem Angénieux Retrofocus 24mm f3.5 liegt die Auflösung in den Ecken bei 310-354 LP/PH (sagittal) und ca. 600 LP/PH (meridional) bei den Einzelwerten – der Ecken-Mittelwert beträgt 328 LP/PH:
Sehen wir uns das Target Nr.5 in der rechten unteren Ecke an (sagittal mit 345 LP/PH gemessen – meridional mit 560 LP/PH):
Trotz der deutlichen Rest-Fehler ist die Struktur noch deutlich erkennbar, wenn auch richtungsabhängig. Der sagittale Wert entspricht 29 L/mm. Die visuelle Auswirkung des Farbfehlers ist – trotz des hohen CA von 8 Pixel! – auf die Farbsäume begrenzt.
Das Nachbar-Target (Nr. 21) links davon hat 500 LP/PH sagittal und 502 LP/BH meridional – also frei von Astigmatismus, aber mit CA von ca. 4,5 Pixeln:
Folgend sehen wir das entsprechende Auflösungs-Diagramm des Zeiss Jena Flektogon 25mm f4.0 (1959):
Angesichts des in den Ecken „noch“ bei 301 LP/PH liegenden Mittelwertes (gilt für sagittale und meridionale Strahlen) liegen hier die sagittalen Einzelwerte Rand/Ecken bei erschreckend niedrigen 104 – 222 LP/PH.
Sehen wir uns den Linken Rand (Mitte) mit sagittal 222 LP/PH / meridional 610 LP/PH an (Target-Nr.10):
Hier ist die Struktur schon sehr weich aber deutlich zu erkennen – kräftiger Rest-Astigmatismus, aber sehr geringer Farbfehler. Es ist schwer zu sagen, wie diese Situation analog auf Film gemessen worden wäre: 222 LP/PH entsprächen 18,5 Linien/mm… das wäre wohl nicht mehr als gut bewertet worden.
Nur wenige mm weiter nach außen am Target 17 (rechter Rand ein Taget nach unten) liegt die Auflösung bei sagittal 160 LP/PH und meridional bei 591 LP/PH:
Hier bricht im sagittalen Sektor der Struktur der Kontrast endgültig ein – fast schon verschwommen und man erkennt, dass noch weiter rechts am äußersten Rand (es fehlen noch 4mm bis zum Rand) der Kontrast noch einmal dramatisch absinken wird.
In der Ecke oben rechts (Target Nr. 3) mit 104 LP/PH sagittal, 338 LP/PH meridional:
Man kann die Struktur nur noch erahnen – die extrem niedrige sagittale Auflösung und der hohe Rest-Astigmatismus lösen die Bildstruktur auf – obwohl die Chromatische Aberration mit ca. 1,6 Pixel nur ein Fünftel der CA bei dem Angénieux 24mm in der Ecke ist.
Betrachten wir im direkten Vergleich das entsprechende Objektiv von Zeiss-West, das 3 Jahre später heraus kam und eine Blende lichtstärker ist – Distagon 25mm f2.8 (für die Contarex 1961):
Auch hier liegen die sagittalen Werte am Rand bei Offenblende f2.8 unter 200 LP/PH.
Ich zeige folgend die beiden Targets Nr.10 (linker Rand, mitte) und Nr.5 (rechte untere Ecke):
Hier beginnt bei sagittal 195 LP/PH die Bilddefinition sich durch eine Kombination eines starken Rest-Astigmatismus (meridionaler Wert: 917 LP/PH) und des Farbfehlers aufzulösen – der Kontrast ist schwach.
In der Ecke sagittal 185 LP/PH mit starkem Rest-Astigmatismus findet sich nur noch in einem sehr schmalen meridionalen Sektor eine klar definierte Struktur (mit 379 LP/PH) mit niedrigem Kontrast.
In dieser Gruppe der FRÜHEN Retrofocus-Objektive mit 24 oder 25 mm Brennweite (Angénieux, Carl Zeiss Jena Flektogon und Zeiss-Ikon Distagon) gibt es ein viertes (1963) aus Japan: Topcon Topcor 2,5cm f3.5, das unter diesen Optiken herausragt:
Der Mittelwert der (sagittalen und meridionalen) Rand-/Ecken-Auflösungswerte beträgt hier 683 LP/PH. Das folgende Bild zeigt die Struktur von Target Nr.5 in der rechten unteren Ecke:
Bei diesem Auflösungs-Niveau (mit mäßigem Astigmatismus und geringem Farbfehler (CA-Wert in der Ecke 1,5 Pixel!) liegt nun eine klare Bildstruktur vor – nur deutlich weicher als im Bildzentrum.
Dieses Objektiv ragt damit in der Bildqualität deutlich aus dem Feld der zeitgenössischen „Superweitwinkel“ zwischen 1957 und 1963 hervor.
Sehen wir uns noch den nächsten Qualitäts-Schritt am Beispiel des Minolta MD W-Rokkor 24mm f2.8 an:
Der Kontrast liegt hier deutlich höher mit einem Durchschnittswert der Auflösung Rand/Ecken von 1002 LP/PH.
Schließlich die gegenwärtige moderne Referenz – das Zeiss Distagon 25mm f2.0:
Das Objektiv ist mit der Auflösung bei Blende 2.0 in der Ecke mit durchschnittlich 1.517 LP/PH visuell kaum noch von der Bildmitte zu unterscheiden (Vignettierung auch hier korrigiert!).
Man sieht an diesen Beispielen deutlich, dass außer dem meßtechnischen Wert der Auflösung die Rest-Bildfehler die visuelle Wirkung wesentlich mit beeinflusst. Wobei man den Eindruck hat, dass ein größerer Farbfehler sich ggf. weniger zerstörerisch auf den Bildkontrast auswirkt als ein starker Rest-Astigmatismus.
FAZIT:
Man sieht, dass 200-300 LP/PH als Untergrenze einer bildgebend noch brauchbaren Auflösung gelten können (s. Bild 14), wenn Rest-Astigmatismus und Farbfehler im mäßigen Grenzen bleiben. Der absolute Auflösungswert entscheidet in diesem Bereich allerdings nicht alleine über das bildliche Ergebnis. Genauso entscheidend ist der Korrekturzustand – also die anwesenden Rest-Linsen-Fehler. Allgemein sind diese historischen Objektive in der Rand-/Ecken-Auflösung ab ca. 400 – 600 LP/PH als gut zu bezeichnen (s. Bilder 11, 12 und 21) – mit gewissen Abstrichen beim Kontrast.
Ab Anfang der 1970er Jahre werden Auflösungs-Werte in den Ecken um 1.000 LP/PH bei Offenblende auch bei Weitwinkelobjektiven erreicht, womit zumindest in der Analog-Fotografie hervorragende Ergebnsise möglich waren.
Moderne Objektive erreichen dank asphärischer Linsenflächen hervorragend ausgeglichene Ergebnsise auch bei Offenblende über das gesamte Bildfeld – auch bei sehr großen Bildwinkeln (s. Bild 23).
Copyright Fotosaurier, Herbert Börger, Berlin, 14. März 2020