Fotosauriers optisches Testverfahren für Objektive mit IMATEST

Ich messe die optische Qualität von Objektiven mit Hilfe des IMATEST-Verfahrens. (Imatest ist eine 2004 in Boulder, Colorado, USA gegründete Firma.)

Das durch das Objektiv mit der Digitalkamera aufgenommene Testbild (Target) stellt eine Datei dar (Bild-Daten + Exif-Datei). Diese Datei wird mittels einer (kostenpflichtigen) IMATEST-Software analysiert (IMATEST-Studio oder IMATEST-Master). Die Analyse liefert – abhängig von der Art des Targets – eine ganze Reihe von optischen Prüfergebnissen, die letztlich alle auf der MTF-Kurve basieren.

Das Basis-Verfahren wird Imatest SFR genannt (Imatest spatial frequency response), was man allgemein als „Modulation Transfer Function“ (MTF) bezeichnet. Analysiert wird eine Hell-Dunkel-Kante, die Imatest als „clean, sharp, straight black-to-white or dark-to-light edge“. Die hellen und dunklen Flächen, die an die Hell-Dunkel-Kante angrenzen müssen sehr gleichmäßigen (konstanten) Helligkeitsverlauf besitzen. Der Analyse-Algorithmus basiert auf dem Matlab-Programm „sfrmat“. Im Prinzip ließe sich dafür jede beliebige scharfe Kante verwenden. Imatest empfiehlt und verwendet eine Kante unter 5.71° Neigung und einem Kontrast von 4:1, da dies die am besten reproduzierbaren Ergebnisse liefert:

SlantedEdge
Analysefelder an einer als „slanted-edge“ bezeichneten Hell-Dunkel-Kante, Neigung 5.71°, Kontrast 4:1     horizontal (links)- vertikal (rechts)

Es versteht sich, dass die grafische Qualität dieses Testbildes/Test-Charts eine wichtige Rolle bezüglich der Reproduzierbarkeit von damit erzielten Prüfergebnissen spielt. Deshalb habe ich mir die große Test-Chart „SFRplus 5×9“ von Imatest aus USA liefern lassen (sie kostet derzeit $430,00). Der Abstand zwischen dem oberen und unteren schwarzen Balken beträgt 783 mm – die Gesamtbreite ca. 1.600 mm:

SFRplus-Test-Chart5x9

Die SFR-Messung erfolgt hier, wie vorstehend schon beschrieben, nicht etwa an den kleinen radialen Rosetten, die in die Quadrate eingebettet sind, sondern an den horizontalen und vertikalen Kanten der um 5.71° gedrehten grauen Quadrate.

Das Testbild kommt als eingerollter Druck und muss noch auf eine perfekt ebene, stabile, dauerhafte Unterlage aufgeklebt werden. Das habe ich von einem professionellen Laminier-Betrieb auf dem stabilsten Sandwich-Trägermaterial erledigen lassen ((Blasen/Falten würden das Testbild unbrauchbar machen!). Dazu habe ich auf der Rückseite zwei Al-Profile zur Versteifung und Wandmontage aufkleben lassen. Die genau vertikale und verdrehungsfreie Wandmontag habe ich mit einem Kreuzlaser unterstützt vorgenommen.

Eine typische Aufnahme dieses Testbildes durch das zu untersuchende Objektiv mit der Digitalkamera sollte so aussehen:

Aufnahe-IMATEST-korrekt

IMATEST stellt folgende Check-Liste für die Arbeit mit der Test-Chart auf:

IMATEST - hohe Abforderungen
„Checklist“ für das reproduzierbare Arbeiten mit dem Imatest-Verfahren

Vieles ist da zu beachten – und darüberhinaus entdeckt man in der praktischen Ausführung noch eine Menge Details, die einem eine sehr hohe Konzentration abfordern… zum Beispiel die Ausleuchtung:

IMATEST-Beleuchtung

LED-Lampen! … aber bitte nicht von Akkus gespeist – da ändert sich gegen Ende der Akku-Laufzeit die Beleuchtungsstärke. Unbeding Beleuchtungsintensität messen!

Bezüglich des Arbeitsabstandes als Funktion der Pixel-Anzahl der Kamera gilt, dass die große SFRplus TestChart für die 60 MP der Sony A7Rm4, die ich einsetze, gerade ausreichend ist.

Es kann im Prinzip jeder machen, der eine hohe Motivation dazu hat – aber es ist von äußerst großem Nutzen, wenn man viel von Optik und Physik versteht … damit man am Ende nicht Hausnummern misst! 😉

Ich werde jetzt nicht mehr in jedes Detail gehen. Natürlich ist die nächste wirklich wichtige Hürde, die man nehmen muss, die Ausrichtung der Kamera/Objektiv-Achse zur Mitte und zur Ebene des Testbildes. (Ich arbeite da mit zwei Kreuz-Lasern.)

Wenn man schließlich alles im Griff hat und man hat korrekte Aufnahme-Dateien des Testbildes erstellt, dann ist der Rest mit der Imatest-Software tatsächlich eine Knopfdruck-Aktion: mit dem oben dargestellten Chart SFRplus definiert das Programm automatisch 46 „ROI“ (region of interest) – also kleine Ausschnitte der „slanted-edges“ wie oben beschrieben – mal horizontal mal vertikal orientiert – und analysiert dann binnen weniger Sekunden die Auflösung an diesen 46 Stellen, die MTF-Kurve, ein (vorher festgelegtes) Kantenprofil und die Auflösungskurve über dem Bildkreisradius (getrennt nach sagittaler und meridionaler Orientierung.

Kantenprofil+MTF-Kurve
Beispiel einer Kantenprofil/MTF-Auswertung an einer einzelnen ROI-Position (14% rechts vom Bildzentrum)

Das wird in Graphen oder auch in Tabellenform ausgelesen – bzw. als Datei, mit der man weitere programmierte Auswertungen und Darstellungen durchführen könnte.

Angén24f3,5_Offen_sagittal

MTF30-Auflösungswerte in Linienpaaren je Bildhöhe (60 MP-Sensor!) in den ROI-Positionen mit überwiegend sagittaler Orientierung. Man erkennt, dass die Methode bis sehr weit in die äußerenen Bildecken hinein funktioniert!

Auflösungs-Daten kann man für mehrere MTF-Kontrast-Werte (MTF10, MTF20, MTF30, MTF50) ausgeben lassen. Dann wird neben den Einzelwerten in der obigen grafischen Darstllung auch der gewichtete Mittelwert der (z.B.) MTF30-Auflösung über das GESAMTE Bildfeld, der Mittelwert für die MITTE, der Mittelwert für den Übergangsbereich und der Mitttelwert für die Ecken ausgegeben:

MTF30-Mittelwerte
Gesamt- (gewichtet!) und Zonen-Mittelwerte aus den Einzelwerten der darüber dargestellten Messung – die Mittelwerte enthalten ALLE sagittalen und meridionalen Meßergebnisse.

Außer den Auflösungs- und MTF-Daten werden Chromatische Aberration und Verzeichnung ermittelt.

Ich messe stets bei ALLEN Blenden jedes Objektives und definiere als „optimale Blende“ der jeweiligen Optik die mit dem höchsten (gewichteten) Gesamt-Mittelwert der Auflösung über das gesamte Bildfeld. Es kann dabei sein, dass an diesem Blendenwert die maximale Auflösung in der Bildmitte schon überschritten ist, aber die Rand/Ecken-Auflösung noch deutlich steigt.

Zur Charakterisierung einer Optik habe ich mich entschieden, folgende Auflösungswerte anzugeben – und zwar einmal bei Offenblende, einmal bei optimaler Blende:

  • Mittelwert gesamte Bildfläche (gewichtet mit 1/0.75/0.25)
  • Mittelwert der Meßpunkte in Bildmitte (bis 30% Bildradius)
  • Mittelwert der Meßpunkte Rand/Ecken (außerhalb 70& Bildradius)
  • MTF-Kurve (über der Frequenz aufgetragen)
  • Kurve der Auflösung über dem Bildradius (Mitte=0 …. Ecke=100)

Außerdem Verzeichnung und CA. In meinen Vergleichstabellen kann das dann so aussehen:

Tabellen-Beispiel Auflösung

Gelegentlich kann die 3D-Darstellung der Auflösung über der Bildfläche noch zu weiteren Erkenntnissen beitragen. Hier ein Beispiel (dasselbe Objektiv, wie in den anderen Beispielen weiter oben und unten!):

Angén90f11_Merid+Sagit_3D

3D-Darstellung der meridionalen (links) und sagittalen (rechts) MTF50-Auflösungswerte 

Alle Messungen erfolgen an derselben Digitalkamera Sony A7Rm4 mit 60 MP-Sensor und E-Mount-Objektivanschluß unter stets gleicher Einstellung von Auflösung und kamerainterem RAW-Converter (z.B. Schärfung auf Wert „0“).

Soviel zur konkreten Messung der Qualität der optischen Systeme. Und damit wäre für fabrikneue Objektive an einer Kamera, für die die Optik hergestellt wurd, eigentlich alles gesagt.

Bei meinen Untersuchungen an HISTORISCHEN Objektiven treten allerdings folgende Einflüsse auf:

a) Ich nehme hier die Messungen an historischen Objektiven vor, die bis zu 100 Jahre alt sein können. Die meisten davon sind in einem normalen Abnutzungs- und Alterungs-Zustand, wobei ich festhalten möchte, dass nur Objektive in ein Vergleichsprogramm aufgenommen werden, die keine starken Ablagerungen, Beläge und Separationen an Linsenflächen zeigen, die schon als „Schleier“ in Erscheinung treten. Staubpartikel im Inneren und mäßige Putzspuren sind nicht auszuschließen – aber alle geprüften Optiken erscheinen – auch mit einer LED-Punktlampe durchleuchtet – weitgehend klar! Welchen Einfluss die Alterung und „normale“ Verschmutzung auf die Messergebnisse haben kann ich nicht klären – ich schlage vor, dass man die Ergebnisse pragmatisch eben als das ansieht, was sie sind: nämlich die Eigenschaften (unterschiedlich) gealterter historischer optischer Geräte! Die Ergebnisse liefern allenfalls einen orientierenden Eindruck vom Auslegungs- und Neu-Zustand dieser Objektive. Da die Ergebnisse in vielen Fällen überraschend gut ausfallen, darf man die Dinge auch gerne so bestaunen, wie sie jetzt erscheinen. Ich kann mir kaum vorstellen, dass die Optiken durch die Alterung BESSER geworden sind…

b) Um die Objektive der unterschiedlichsten historischen Kamerasysteme (wie Exakta, Alpa, M42,…) an die Kamera mit E-Mount anzuschließen, wird ein ADAPTER benötigt. Damit tritt ein rein mechanisch-geometrisches Problem im Versuchsaufbau auf: nach meinen bisherigen Erfahrungen ist genau das die zweitgrößte Fehlerquelle bei den Versuchen, über die ich berichte. Weil der Adapter nun ein Bestandteil der Fassung des Objektives ist, verschlechtern sich oft Zentrierung und Ausrichtung der optischen Achse relativ zum digitalen Bildsensor.

Die IMATEST-Software liefert bezüglich dieses Problemes allerdings eine wichtige Hilfestellung:

Angén90f2,5_f11_Geometry

Analyse der Geometrie der Imatest-Bilddatei: in der untersten Zeile stehen die „Convergence angles“ in horizontaler und Vertikaler Richtung: wenn die Zahlenwerte hier „Null“ sind, ist die Ebene des Testbildes relativ zur Sensor-Ebene ideal parallel ausgerichtet (d.h. die Linien des Rasters schneiden sich im „Unendlichen“. Die Bildmitten müssen sich dann nicht exakt decken (s. dritte Zeile von unten: central square pixel shift).

Man kann dieses Analyse-Ergebnis benutzen, um den Meßaufbau mit dem jeweiligen Adapter  optimal auszurichten. Ich habe mir derzeit eine Toleranz von <0.1 Grad bei den Konvergenz-Winkeln gesetzt.

c) Die größte  – und leider nicht sicher abzuklärende – Fehlerquelle bei diesen Messungen an historischen Objektiven, die für die Benutzung mit „Analog-Film“ konstruiert wurden, ist die unbekannte Wechselwirkung zwischen Optik und Digital-Sensor („Digital-Tauglichkeit“).

Hier sehe ich aufgrund meiner Erfahrungen drei Haupt-Probleme:

c1) Mögliche Reflexionen zwischen einer oder mehreren Linsenflächen und der Sensoroberfläche. Das kann sich zonenweise als Kontrastminderung auswirken oder auch das Bild ganz gravierend stören. In meinem Blog-Beitrag über das Ernostar 100mm f2.0 habe ich eine solche Erscheinung beschrieben (mit dem 42 MP Sony-Sensor).

Ernostar (die 2.) – Streulicht-Problem auf Anolog-Film?

Dort bildete sich beim Abblenden über f5.6 ein großer, milchig aufgehellter Bereich in der Bildmitte. Am 24 MP-APSC-Sensor in der Fujifilm-X-T2 (bzw. X-Pro2) trat dieselbe Erscheinung nicht auf. Dabei habe ich auch untersucht, dass diese Erscheinung auf Analog-Film bei diesem Ernostar-Objektiv nicht auftrat.

c2) Anti-Aliasing-Filter als zusätzliche optische Elemente können einen nennenswerten Einfluß auf die Bildqualität nehmen. Das ist sehr anschaulich im Artikel von H.H.Nasse unter lenspire.zeiss.com beschrieben.

https://lenspire.zeiss.com/photo/app/uploads/2018/11/Nasse_Objektivnamen_Distagon.pdf

Allerdings besitzt die verwendete Sony A7Rm4 kein Anti-Aliasing Filter, sodass ich nicht davon ausgehe, dass es in meinen Untersuchungen diesen Einfluss gibt.

c3) Hintere Schnittweite (Abstand zwischen hinterstem Linsenscheitel und der Film/Sensor-Ebene) und daraus möglicherweise resultierende sehr flache Einfalls-Winkel der Strahlen auf den Sensor. Was der Film verkraftet (und zwangsweise mit starkem Helligkeitsabfall im Außenbereich des Bildes quittiert = starke Vignettierung) bekommt dem Sensor nicht: es kommt zu schlimmsten Einbrüchen der Auflösung und Farbübertragung! Auch das ist im Nasse-Artikel sehr anschaulich beschrieben!

Diese Erscheinung gilt grundsätzlich für alle (symmetrischen) Weitwinkelobjektive der Brennweite <35mm an Digitalsensoren, also meistens für die Weitwinkelobjektive mit Bildwinkel >70°, die für analoge Meßsucherkameras gebaut wurden. Für Retrofokus-Objektive gilt das nicht.

Ich rechne aber damit, dass es auch noch andere, unbekannte Wechselwirkungen zwischen Analog-Objektiv-Strahlengang und Digitalsensor gibt. Deshalb ist für mich die wichtigste Voraussetzung für die VERGLEICHBARKEIT von Messergebnissen mittels Digitalkamera, dass immer dieselbe Kamera dafür verwendet wird – mit immer gleichen Einstellungen des RAW-Converters.

Copyright Fotosaurier, Herbert Börger, Berlin, 07. März 2020

 

Sternstunden der Foto-Optik – Pierre Angénieux

Ein bemerkenswerter Ingenieur und Unternehmer der französischen Optik-Industrie – in Deutschland (zu) wenig bekannt.

Aktualisierung am 22.11.22: Genaue Informationen zum Objektiv „Type M1, 50 mm f/095“ in diesem Artikel unten im Text.

Aktualisierung am 15.02.23: IMATEST-Messergebnisse für das Angénieux M1 50mm f/0,95 in einem neuen Blog-Beitrag – hier.

Bei einem Gespräch auf der Photokina 2018 stellte ich fest, dass selbst altgediente Foto-Experten bei uns mit dem Namen Angénieux wenig anzufangen wissen. Das hat mich motiviert, diesen Text über die phänomenalen Innovationen von Pierre Angénieux zu verfassen, der nach dem 2. Weltkrieg die wohl nachhaltigsten (Linsen-)Erfindungen für die heutige Foto- und Film-Optik hervorbrachte:

Binnen nur 6 Jahren schenkte er der Welt drei bedeutende Innovationen:

  1. Das erste Retrofokus-Weitwinkelobjektiv für SLR-Kameras (1950)
  2. Das erste Objektiv mit Lichtstärke 1:0.95 (1953)
  3. Das erste mechanisch kompensierte „echte“ Zoomobjektiv (1956)
Pierre Angénieux

Alle diese Innovationen waren, wie gesagt, auch noch außerordentlich nachhaltig: sie sind bis heute gültiger Bestandteil aktueller optischer Konstruktionen! Heute werden alle Zooms aller Hersteller nach dem seinerzeit von Angénieux durchgesetzten System (der mechanischen  Kompensation) hergestellt. Diese Nachhaltigkeit gilt auch für die 1935 von P.A. gegründete Firma – sie existiert bis heute (Thales-Angénieux)  und ist nach wie vor ein Leuchtturm in der Film-Branche, wenn auch die Foto-Objektive in den 1990er Jahren (ca. ab 1993) an der Schwelle des Übergangs der Kleinbild-Kamerasysteme zum Autofokus-System aufgegeben wurden – wohl zeitgleich mit der Übernahme der Firma durch den Thales-Konzern.

Ein Lebensweg, gesäumt von Innovationen und nachhaltigem Erfolg.

Dass Angénieux insbesondere von 1950 bis 1964 ein solches „Feuerwerk“ von mehreren innovativen Produktlinien als doch relativ kleiner Mittelständler parallel zueinander „abbrennen“ konnte, lag daran, dass er die Zeit des 2. Weltkrieges, als seine Firma auf militärische Produkte beschränkt war, klug für grundlegende Entwicklungen in der Optik-Berechnung nutzte und vermutlich ja auch Prototypen baute, diese aber geheim hielt: mit seinen eigenen neuen Berechnungsmethoden konnte er optische Systeme 10-fach schneller berechnen als es dem damaligen Stand der Technik entsprach – noch vor dem Einsatz von Computern! Angénieux war nämlich auch als Mathematiker begabt – und mehr noch: in vielen Fällen vertraute er seinem Gespür für die Sache – und hatte sehr of das RICHTIGE Gespür.

In vielen Quellen über Angénieux wird die Zusammenarbeit mit der NASA ab 1964 als weiteres (4.) Highlight in seiner Laufbahn aufgeführt. (Optiken waren in den Ranger 7- bis Apollo 11-Missionen (1969) zum Mond eingesetzt – später begleiteten Angénieux-Objektive auf Filmkameras jede Space Shuttle Mission bis 2011! ). Das ergab sich wohl aus seiner damaligen Innovationsführer-Rolle, führte aber meines Wissens nicht zur Schaffung spezieller Optik-Systeme für diesen Zweck (abgesehen davon, dass Objektive im Weltraum mit speziellen Fetten und Coating-Systemen produziert werden mussten, wenn sie im Vakuum funktionieren sollten, oder mechanisch für den Einsatz in der Schwerelosigkeit modifiziert werden mussten.). Immerhin aber: jedesmal, wenn jemand den ersten Schritt eines Menschen auf dem Mond sieht …. blickt er quasi durch ein Angenieux-Objektiv auf diese Szene. Ein äußerst prestigeträchtiger Umstand, der sich in diesem Jahr (2019) gerade zum 50sten mal jährt!

Die primären Anwendungsbereiche, die Angénieux seinerzeit im Auge hatte, waren Cine-Objekive: für Filmkameras für die professionellen 16 mm und 35 mm-Formate – aber auch für 8 mm, Super8 und TV. Stets wurden aber auch zeitnah Objektive für Fotokameras (Kleinbild-Format) gerechnet und auch in Massen produziert. (Für die, die es nicht wissen: das 35 mm-Cine-Format hat ein deutlich kleineres Bildformat (16 mm x 22 mm – also etwa wie APS-C heute) als das (angelsächsisch) auch mit „35 mm“ bezeichnete Kleinbild-Format 24 mm x 36 mm.).

Die großen Verdienste für die optischen Systeme an Filmkameras fanden denn auch große Anerkennung in der Branche: P. Angénieux erhielt zwei „Acamedy Awards“ (vulgo: „Oscar“ genannt): Den ersten Oscar für das erste 10-fach Zoom 1964, den zweiten für sein Lebenswerk 1990. (Wer in der Award-Liste der Academy im Internet nachsehen will: dort steht er bei den Verleihungen des Jahres 1965…)

Versetzen wir uns in das Jahr 1945 (mein Geburtsjahr!): ein nun schon nicht mehr ganz so junger Optik-Ingenieur und Unternehmer (*1907) sitzt in seinem Heimatort Saint-Héand (südlich von Lion) und wartet nach dem Ende des Krieges auf seine Chance. Seine Ausbildung hat er beim französischen „Papst“ für Film-Optik – Henri Chrétien (Designer des Cinemascope-Systems) – genossen und dann von 1930 – 1935 bei dem Weltmarktführer für optisches Film-Equipment – Pathé – als Optik-Ingenieur wertvolle Erfahrungen – und vor allem Kontakte mit der filmschaffenden Industrie erworben. Nebenbei war er schon seit 1932 zeitweise selbständig tätig (A.S.I.O.M.).

Eine seiner sehr wenigen Zitate über sich selbst lautete: „Ich habe niemals für einen Chef gearbeitet.“ Er selbst mochte es nicht, wenn man über ihn sprach. Folglich äußerte es sich sehr selten öffentlich. Es gibt daher fast keine „Primär-Quellen“ über sein Werk. Er war ein Mensch, der seiner selbst sicher war – diskret, aber nicht bescheiden. Er hatte ein Gespür für die Märkte von Morgen – oft lange vor anderen – und dabei einen Sinn für den Moment, in dem es opportun ist, Produkte zu lancieren. Ein anderes der sehr seltenen Zitate aus seinem Munde:

„Ich hatte ein außergewöhnliches Leben – ich habe immer getan, was ich liebte – und es ist mir alles gelungen!“

Nachdem er die Firma in andere Hände gelegt hatte und sich zurückzog, hat er nicht etwa seine Autobiografie verfasst – sondern einen Roman geschrieben.

Er war eher nicht der Tüftler-Erfinder, der in seiner Kammer (oder dem Elfenbeinturm) etwas erdenkt und dann hervortritt, um die Welt damit zu beglücken. Zwar nutzte er die ansonsten für zivile Innovationen verlorene Zeit des 2. Weltkrieges, um in St. Héand ganz für sich bahnbrechende optische Ideen „im stillen Kämmerlein“ voranzutreiben, aber da hatte er längst mit wichtigen Filmschaffenden eng zusammengearbeitet. Ab 1930 war er ja bei Pathé mit der Crême de la Crême der französischen Filmbranche in Kontakt gewesen und wusste direkt von den Kreativen – Kameraleuten und Regisseuren – was die haben wollten, was die sich von der Technik wünschten. Und die Regisseure trafen auf jemanden, der sie verstand und das Potential hatte, ihre Vorstellungen zu realisieren – ohne auf die Interessen eines Konzerns Rücksicht nehmen zu müssen.

D.h. Angénieux startete mit dem Wissen und Verstehen der Markt-Bedürfnisse. Es wird berichtet, dass schon seine erstes Retrofocus-Weitwinkel-Objektive für 16 mm- und 35 mm-Film (10 mm f1.8/ 18,5 mm f2.2) in der Branche große Begeisterung auslösten, weil sie den Regisseuren völlig neue Blickperspektiven ermöglichte. Orson Welles hat damals umgehend mehrere Filme mit nur (oder überwiegend) diesem einen Objektiv auf der Kamera gedreht. Ähnliche Berichte gibt es über das ultralichtstarke 10 mm f0.95. Man kann wohl ohne Übertreibung sagen, das die optischen Innovationen Angénieux’ in der Entwicklung des „Looks“ des neuen französischen Films kurz nach dem 2. Weltkrieg (New Wave und Cinéma Vérité) einen bedeutenden Anteil hatten. Das geht eindeutig aus vielen Aussagen der damals führenden Kameramänner hervor und dies hat in der Folge den Ruf der Produkte des Unternehmens bei den Fachleuten weltweit gefördert!

Angénieux’ Innovations-Drang machte dabei nicht Halt bei dem Objektiv-Linsenschema im engeren Sinne. Er hatte auch immer die ganze Kamera und die Arbeitsweise der Nutzer im Blick: so integrierte er schon in das erste 10-fach-Zoom für 16mm-Filmkameras (12-120 mm f2.2) in den Objektiv-Strahlengang einen Strahlenteiler, an dem seitlich ein Sucher-Strahlengang „ausgeschleust“ war. So wurde durch Wegfall des großen und voluminösen Suchers an der Kamera selbst das ganze Gerät leichter, kompakter, präziser und bedienungsfreundlicher.  Macht man dem Kameramann die Arbeit mit der Ausrüstung leichter, wird er diese lieben, denn er kann sich auf das Wesentliche besser und schneller konzentrieren! Vermutlich waren es genau diese „gesamtheitlichen“ Sichtweise des Ingenieurs Angénieux, die den schnellen und großen Erfolg beförderten.

Daraus darf man nicht schließen, dass Angénieux die Foto-Optik stiefmütterlich behandelt hätte: schon als die ALPA Reflex 1939 als zweite SLR nach der Kine Exakta auf den Markt kam, war sie mit Normalobjektiven  50 mm f2.9 oder 50 mm f1.8 von P.Angénieux ausgestattet. Dutzende  Consumer-Kameras von 6 x 9 cm bis Kleinbild wurden in großen Mengen mit Angénieux-Optiken ausgestattet – besonders auch bei Kodak-Pathé.

Auch der Lebensabend dieses ungewöhnlichen Menschen verlief anders als man es von solchen unternehmerischen Lichtgestalten gewöhnt ist: Er klammerte sich nicht bis an das Lebensende an sein „Baby“, sondern gab, nachdem er alles erreicht hatte auf dem Höhepunkt des Erfolges seiner Zoom-Objektive mit 67 Jahren im Jahr 1974 die Leitung der Firma an Schwiegersohn und Sohn ab. Im Ruhestand schrieb er sogar einen Roman. Die Firma wurde 1993 schließlich – nach einem kurzen Intermezzo mit Essilor als Mehrheitseigner – an den Thales-Konzern verkauft und existiert bis heute erfolgreich als Thales-Angénieux. Pierre Angénieux starb 1998 mit 90 Jahren.

Am Ende des Textes habe ich eine Übersichtstabelle über die wichtigsten Innovations-Schritte durch Angénieux angefügt. Darin sind weitere Innovationen in Militär- und Medizin-Technik noch gar nicht berücksichtigt (erstes Head-up-Display, Schattelose OP-Kaltlichtquellen etc.).

Ich möchte noch erwähnen, dass es eine zweite sehr wichtige Persönlichkeit im Hause Angénieux gab, der sicher erheblicher Anteil an der Erfolgsgeschichte zu kommt: André Masson (*1921), der 1951 in die Firma eintrat und ebenso ein äußerst fähiger Optik-Ingenieur war. Er hatte zuvor in der Forschung am Konzept der MTF (Modulationstransferfunktion zur qualitativen Beurteilung von komplexen Linsensystemen) gearbeitet und dies in Frankreich parallel zu den Zeiss-Koryphäen Hansen und Kinder (1943) entwickelt. Dieses System bildete dort genau wie bei Zeiss die Grundlage der optischen Qualität. Die Foto-Zooms, die ich besitze, wurden mit einem MTF-Diagramm ausgeliefert in das der Messwert dieses Objektivs bei  20 L/mm von Hand eingetragen ist – in allen Fällen liegt dieser Punkt deutlich über der angegebenen „mittleren“ MTF-Kurve.

André Masson war dann später bis zu seinem Ruhestand 1991 Generaldirektor bei Angénieux.

Ich erlaube mir an dieser Stelle noch einige tiefere Bemerkungen zu diesem „Phänomen Angénieux“, wie es sich nach intensivem Studium mir heute darstellt: ich habe zuvor bereits den Begriff „Nachhaltigkeit“ mit einer Vielzahl seiner Erfindungen in Verbindung gebracht. Wir haben es offensichtlich mit einem Ideal- und Glücks-Fall eines Mathematiker-Ingenieur-Marktversteher-Unternehmers zu tun, der oft das WESENTLICHE sah und dies dann auch aufgrund seiner Talente leisten und umsetzen konnte. Umgekehrt bedeutete dies, dass er – zumindest in der Anfangszeit – nicht immense Mengen Zeit und Geld in die Vermarktung der Produkte stecken musste – vielmehr riß man ihm seine Produkte bereits im Prototyp-Stadium aus den Händen! Regisseurinnen und Regisseure drehten mehrfach bereits Filme mit Objektiv-Prototypen, ehe die Objektive offiziell in die Produktion gegangen waren – und wirkten damit auch an der Erprobung der Produkte mit, die dann vor der Aufnahme der Serienproduktion noch angepasst werden konnten. Kann man sich eine privilegiertere Position vorstellen? Man kann auch seine Begeisterung für den Film gut verstehen: diese Welt bot Glamour… dem er sich selbst als Person allerdings konsequent entzog.

Meine persönlichen Erfahrungen mit Angénieux-Optiken.

Mit dem oben beschriebenen Wissen bin ich nicht auf die Welt gekommen. Als sich bei mir die Liebe zu Fotografie und Optik in den 60er Jahren zunehmend manifestierte, hatte Pierre Angénieux persönlich sein Lebenswerk schon fast vollendet… Geprägt durch die sehr frühen Erfahrungen mit der Contaflex II meines Vaters und die Liebe zur Natur- und Makro-Fotografie, ergab sich fast zwangsläufig meine Orientierung zur Spiegelreflex-Technik, die in der ersten Station natürlich bei EXAKTA (Varex IIb) münden musste. Schon damals hätte ich durchaus Angénieux-Objektive an meiner Exakta verwenden können – sie hatten damals einen Ruf wie Donnerhall… da ich mir aber als Student nicht einmal die hervorragenden original Zeiss-Jena-Boliden leisten konnte, war ich durchaus glücklich mit meinen Enna- und Isco-Linsen (das nannte man damals noch nicht „third-party-lenses“ sondern einfach „Fremdhersteller-Objektive“).

Praktischer Zugang zu den Meisterstücken des P. Angénieux ergab sich für mich erstmals zufällig im Jahr 2004. Ich experimentierte damals viel mit grandiosen älteren Analog-Objektiven aus den Baureihen Leica R, (Zeiss) Contax C/Y, Olympus OM und hatte alle nötigen Adapter für die Canon EOS 10d (und konnte Nikon-Optiken auch an der Kodak DCS Pro 14n mit 14 MP verwenden). Damals lieh mir ein Foto-Freund sein Angénieux-Zoom 45-90 mm f2.8, das mechanisch schon sehr stark abgenutzt war (zu diesem Zeitpunkt ja auch schon 22-33 Jahre alt….).

Schon der Blick durch den Sucher war eine Überraschung für mich, als ich sofort den hohen Kontrast des Sucherbildes wahrnahm. Die damit gemachten Aufnahmen bestätigten diesen Eindruck dann in vollem Umfang.

Angénieux-Optiken für Foto-Anwendungen.

Angénieux 45-90mm f2,8

Bild 1: Das erste Angénieux Foto-Zoom 45-90 f2.8 für Leicaflex 1968-1980 exklusiv für Leica in Leica-Design (Leica-Ref. 11930) – hier an der Leica R8

Angénieux-Festbrennweiten

Bild 2: Meine Angénieux Festbrennweiten (alle für ALPA) v.l.n.r.: 28 mm f3.5 (1953), 24 mm f3.5 (1957), 90 mm f2.5, 180 mm f4.5 – rechts das 90er-Jahre-APO-Tele 180 mm f2.3 mit Leica R-Anschluss – inzwischen ist das Retrofocus 35mm f2.5 für Exakta hinzu gekommen …

Angénieux Foto-ZoomsBild 25.01.20 um 23.02

Bild 3: Meine Angénieux-Zoom-Objektive v.l.n.r.: 45-90 mm f2.8 (1969-1982), 35-70 mm f2.5-3.3 (1982), 70-210 mm f3.5 und 28-70 mm f2.6 AF (1990) (2.v.r. – hier für Nikon)

In diesem Blog (fotosaurier.de) werde ich die Qualität dieser Objektive im Vergleich mit zeitgenössischen und modernen Optiken anderer Hersteller näher untersuchen und vergleichen.

Das ursprüngliche „R1“ genannte erste Weitwinkel 35 mm f/2.5 hat es laut Ponts Monografie (Lit.1) für ALPA nicht gegeben …. 

Die Liste der Foto-Zoom-Objektive nimmt sich im Vergleich zu dem „Feuerwerk“ von Zoom-Modellen für den Cine-Bereich bescheiden aus. Patrice-Hervé Pont führt in seiner Monografie für 8 mm-, 16 mm- und 35 mm-Filmkameras und TV-Kameras 101 Modelle (bis zum Jahr 2002) auf – die speziellen Modifikationen (u.a. für Anamorphot-Vorsätze und die Raumfahrt) nicht mitgerechnet… Daran sieht man deutlich, welche Prioritäten die Firma – nachvollziehbar aus geschäftlichen Gründen! – setzte. Für die verschiedenen Cine- und TV-Formate gab es immerhin auch 29 Festbrennweiten, wovon eine – das Retrofocus-Objektiv „R7“ – 5,6 mm f1,8 mit 94° Bildwinkel für Cine16mm noch bis nach dem Jahr 2000 gefertigt wurde.

a – Retrofokus-Objektive:

Diesen Begriff hat Angénieux für das schon länger bekannte „reverse telephoto design“ (also „umgekehrtes Tele-Objektiv“) eingeführt. Schon Cooke Optics war bei seinen Objektiven für das Technicolor-Verfahren (ab ca. 1922) wegen des zwischen Objektiv und Film stehenden Strahlenteilers gezwungen Objektive mit im Verhältnis zur Brennweite vergrößertem filmseitigen Abstand zu schaffen – die „Panchro Lenses“. Schon 1930 hatte H.W.Lee (für Tayler, Tayler & Hobson) sein inverted telephoto design patentiert (für 50° Bildwinkel und f/2.0).

Bis zum Beginn des 2. Weltkrieges gab es erst drei serienmäßige Kleinbild-Spiegelreflex-Modelle (35mm-SLR): die Kine-Exakta (1933/34) und die Praktiflex (1936) aus Deutschland und die schweizerische ALPA Reflex (1944). Aber schon damals war der Fachwelt klar, dass das SLR-Prinzip viele grundsätzliche Vorteile gegenüber der Sucherkamera hätte – wenn nur nicht der Platzbedarf für den Schwenkspiegel zwischen Film und Objektivrückseite wäre! Diese Situation beschränkte zunächst den Einsatz von  Weitwinkelobjektiven kurzer Brennweite (<45 mm bei Kleinbild). Angénieux hatte das Erscheinen der Alpa-Reflex-Kamera mit ihrem (bis heute) kleinsten Auflagemaß aller SLR-Kameras (37,8 mm gegenüber typischerweise 44-45 mm!) noch vor der Schaffung der Retrofocus-Lösung dazu benutzt, für diese Kamera ein Objektiv 35mm f3.5 heraus zu bringen, das nicht mit dem Spiegel kollidierte -das ist  meines Wissens ein einmaliger Fall geblieben, sonst war bei 40 mm Schluss.

Die für die Sucherkameras üblichen Weitwinkel-Konstruktionen wurden daher anfangs mit hochgeklapptem Spiegel (und Aufsteck-Sucher) benutzt, da sie tief in die Kamera hineinragen mussten.. Es war also eine absolut dringende Problemstellung, Lösungen für den SLR-konstruktionsbedingten größeren Abstand bis zur Filmebene für Weitwinkelobjektive zu finden. Daher verwundert es nicht, dass dafür praktisch zeitgleich identische Lösungen erschienen – zeitlich hatte Angénieux mit seinem Patent vom 29.7.1950 allerdings die Nase vorne.

Angénieux Retrofocus-Patent 1953
Bild 4: Retrofocus-Patent P.Angénieux von 1950

Das erste Angénieux-Retrofokus-Objektiv (R1 – 35 mm f2.5) wurde zeitgleich mit dem Patent 1950 angekündigt. Ab 1953 wurde dieser Objektiv-Typ für SLR-Kameras bei Angénieux in Serie produziert – in GROSSSERIE! – 45.000 Optiken verließen jährlich das Werk, 40% davon nach USA.

Angénieux35f2,5_900

Bild 5: Erstes Retrofokus-Weitwinkel für SLR-Kameras – P.Angénieux  R1 35mm f2.5 in Fassung für Exakta

1953 wurde auch schon das 28 mm f3.5 (R11) vorgestellt und 1957 kam das 24 mm f3.5 für SLR-Fotokameras heraus.

Bereits 1951 waren das 10 mm f1.8 (R21) für das 16mm-Cine-Format und das 18 mm f2.2 (R2) für 35 mm-Cine vorgestellt – jene Optiken die schlagartig in der französischen Filmindustrie mit dem neuen Blickwinkel für Furore sorgten. Die Objektive für Filmkameras fanden dabei oft schon als Einzelstücke sofort in Filmproduktionen berühmter Regisseure Eingang, ehe überhaupt die Serienproduktion begonnen hatte.

Ehrlich gesagt, gehört das Retrofokus-Prinzip aus meiner Sicht eigentlich nicht zu den so dramatisch schwierigen Aufgaben der Foto-Technik.

Noch einmal zurück zur Aufgabe: die Schnittweite der üblichen Weitwinkel-Objektive für Messsucher-Kameras wie Leica ist zu kurz, da der Schwenkspiegel hinter dem Objektiv bei den SLR-Kameras mindestens 37 mm Schnittweite erforderte. Beim Auge würde man sagen: es ist „kurzsichtig“ – und verpasste ihm (mindestens seit dem 17. Jahrhundert) eine Zerstreuungslinse als „Brille“. Genau das ist in der „Fig.1“ des Patentes auch zu sehen: eine negative Meniskus-Linse in größerem Abstand vor einem Tessar-Grundobjektiv. Das ist eine Lösung, auf die ein Optik-Ingenieur leicht kommen kann  – oder? Bei dieser einfachsten Variante (sie reichte für ein 35 mm-Weitwinkel aus) liegt der Mittelpunkt der vorgesetzten Zerstreuungslinse genau im vorderen Brennpunkt des Grundobjektivs. Dadurch bleibt die Brennweite des Grundobjektivs erhalten, nur die Schnittweite vergrößert sich.

Ganz so einfach, wie ich den grundsätzlichen „Trick mit der Kurzsichtigkeits-Brille“ beschrieben habe, ist die Lösung allerdings bei weitem nicht – jedenfalls nicht, wenn eine sehr gute Bildqualität angestrebt wird. Durch das vorgesetzte Zerstreuungsglied wird das Objektiv nun stark unsymmetrisch, verglichen mit dem meistens ziemlich symmetrischen Grundobjektiv. Dadurch werden alle Abbildungsfehler erheblich vergrößert. Es mussten zusätzlich Korrekturglieder eingeführt werden zusätzlich zur Modifikation des Grundobjektivs selbst. In den 50er Jahren hatten daher die ersten Retrofokus-Designs meist 6-7 Linsen, je nach Lichtstärke. Anfang der 60er Jahre hatten gute Retrofokus-Weitwinkel für Kleinbild (24/25 mm, 20/21 mm) 9 oder 10 Linsen. Ohne die reflexmindernde Vergütung der Linsen wäre das zuvor praktisch gar nicht möglich gewesen! Und es brauchte für eine ausgezeichnete Korrektur und höhere Lichtstärke dann auch neuere höher brechende Glassorten, um die Aufgabe gut zu lösen.

Gleichzeitig mit Angénieux haben allerdings die Ingenieure anderer Firmen auch daran gearbeitet: von Zeiss Jena weiß man gesichert, dass 1950 bereits eine Nullserie des 35 mm f2.8 Retrofokus-Weitwinkelobjektivs „Flektogon“ existierte – auch wenn der Designer Dr. Harry Zöllner das Patent erst am 8.3.1953 angemeldet hat – etwa zum Zeitpunkt der Produktionsaufnahme, die fast zeitgleich mit Angénieux war. Ich bin ziemlich sicher, dass es sich um unabhängige Parallelentwicklungen handelte: erstens wegen des gesicherten Zeitrahmens der Flektogon-Nullserie 1950 und zweitens wegen der großen Verschiedenheit des beim Flektogon verwendeten Grundobjektivs.

Auf dem Sektor Retrofokus bestand also offensichtlich 1950-1953 noch Gleichstand zwischen Saint-Héand und Jena – deshalb will ich auch die damals beteiligten Optik-Ingenieure aus Jena hier ausdrücklich erwähnen. Die Schöpfer des Jena-Flektogon waren Dr. Harry Zöllner und Rudolf Solisch.

Zeiss West kam etwas später mit dem gleichen Konzept unter dem Markennamen „Distagon“ auf den Markt (allerdings zuerst für Hasselblad 6×6 1954 und 1956 – dann ab 1958 mit dem 35mm f4 für die Contarex). 

In diesem Zusammenhang soll eine dubiose Verschwörungstheorie nicht unerwähnt bleiben, die meines Wissens von Rudolf Kingslake in die Welt gesetzt wurde: demnach sei das Retrofokus-Prinzip ausschließlich bei Zeiss entwickelt worden – und das Know-How (ein Patent existierte vorher weder bei Zeiss in Jena noch bei Zeiss-Ikon in Stuttgart!) nach dem Krieg als „Reparations-Leistung“ an Angénieux gelangt! Ganz davon abgesehen, dass der Vorgang an sich ein absurdes Konstrukt darstellt: aus Jena, das nach dem Krieg als erste mit Retrofokus aktiv wurde, sind Reparationsleitungen sicher – wenn überhaupt – nur nach Russland gegangen. Mir erscheint es wesentlich wahrscheinlicher, dass es hier um eine „Spitze“ eines britischen Autors gegen französische Spitzenleistungen handeln könnte. (The never ending story…)

Präzise läßt sich dagegen nachverfolgen, wie kurz nach der Vorstellung des Jena-Flektogons das Retrofokus-Prinzip in Westdeutschland bei der Firma ISCO in Göttingen (24 mm f4) auftauchte: der Jenaer Miterfinder Rudolf Solisch war in den Westen gegangen und ist als einer der Erfinder des ISCO-Patentes genannt. Dieses sehr frühe 24 mm-Weitwinkel hatte allerdings bei weitem nicht die hohe optische Qualität des Angénieux-Objektivs (24 mm f3.5!) – und hier könnte man den Kreis schließen: warum sollte  jemand, der nur „Nachahmer“ eines Originals ist, auf Anhieb ein so viel besseres Produkt entwickeln können als der Besitzer des Original-Wissens?

in den 50er Jahren und bis Mitte der 60er war Angénieux‘ großer Vorsprung durch die eigene – bis zu 10-mal schnellere Berechnungsmethode ohne Computer besonders wirksam: beide Zeiss-Firmen (Ost und west) taten sich anfangs schwer mit den unsymmetrischen Konstruktionen und brauchten 2-3 Anläufe um eine wirklich gute Optik herzustellen. Währenddessen lieferte Angénieux nur einmal und dann gleich richtig gut. Die Optiken wurden in der Folge nie überarbeitet. Allerdings verlor ja ganz offensichtlich Angénieux sehr bald das Interesse an den Festbrennweiten – zugunsten der der extrem erfolgreichen Zooms. Mit der fortschreitenden Computeranwendung verlor sich dann auch bald der „Geschwindigkeitsvorteil“ aus den 1950er Jahren.

Die 20 mm-Brennweite (oder kürzer) wurde von Angénieux dann für das Foto-Kleinbild-Format nicht mehr auf den Markt gebracht – wohl aber das entsprechende Modell „R7“ (5,9 mm f1.8 – 10 Linsen) für das Cine-16mm-Format (1967). Dieses wurde als einzige Cine-Festbrennweite noch bis zum Jahr 2000 geliefert. Vermutlich hat der in den 60er Jahren von Angénieux losgetretene Boom bei den Zoom-Objektiven alle Kapazitäten absorbiert bzw. der eintretende wirtschaftliche Erfolg der hochwertigen professionellen Zoom-Produkte für Film-Kameras das Interesse am Foto-Segment in den Hintergrund treten lassen.

b – Die Lichtstärke 1:0.95 „Type M1“ (1953):

Schon in den 30er Jahren des 20. Jh. gab es das „Rennen“ um die „schnellsten“ Linsen: das Ernostar war der erste Schritt – der Doppel-Gauss-Typ die alternative Route. Es setzte sich die Weiterentwicklung des Ernostar zum „Sonnar“ (Bertele) bis f1.5 durch – einfach deswegen, weil es eine gute Lösung mit der geringsten Zahl von Glas-Luft-Flächen bot: die Vergütung war noch nicht Stand der Technik! Es gab Ansätze und Patentanmeldungen bis f1.1 (Lee-lens), 1934, oder Farron f1.2 von Tronnier oder ein Xenon f1.5 von 1932 – aber es war für normale fotografische Zwecke nicht realisierbar wegen des Streulicht-Problems ohne Vergütung. Einzig als Gauss-Typ in Serie realisiert wurde meines Wissens vor dem 2. Weltkrieg das Biotar von Carl Zeiss (75 mm f1.5) – praktisch zeitgleich mit der Einführung der Einschicht-Linsen-Vergütung ab 1936. Sonst war Sonnar der Standard. Spezial-Objektive (Doppel-Gauss) waren bereits Realität für die fotografische Aufzeichnung von Oszilloskop- oder Röntgen-Aufnahmen bei denen das Streulicht-Problem vermeidbar war: z.B. Leitz Summar 75 mm f0.85!!! Eine respektable Bildqualität war aber auch bei diesen Objektiven erst ab f1.2 zu realisieren, da einfach auch noch die geeigneten Glassorten fehlten.

Hier konnte Angénieux gleich nach dem Kriegsende seine enorme Leistungsfähigkeit bei der Optik-Berechnung ausspielen: parallel zu den ersten Retrofokus-Objektiven schuf er die erste großserienfähige Objektivserie mit Lichtstärke 1:0.95 – offensichtlich bewusst kleiner als 1.0 angesetzt, wegen des damit verbundenen  Prestige-Anspruches: Das Lichtbündel hat einen größeren Durchmesser als die Brennweite! Und das können wir beherrschen! Die Patentanmeldung ist von 1953 und die Versionen 10 mm f0.95 (für 16 mm Cine-Format) und 25 mm f0.95 (für 35 mm-Filmformat) – wurden auch sofort bei der Filmarbeit  eingesetzt: das Objektiv passte ideal zum Aufbruch des „cinéma vérité“ in Frankreich.

Angénieux M1 f0,95

Bild 6: Ultra-Lichtstarkes Objektiv Angénieux „M1“ mit f0.95

Damit konnte man gegebenenfalls sogar ohne Drehgenehmigung (mit der Handkamera) in der Metro filmen!

Das 25 mm f0.95 war dann in jenen legendären NASA-Raumfahrt-Missionen Ranger7 bis Ranger8 (ab 31.7.1964) für die TV-Bilder von der Mondoberfläche beim Sturz der Sonden auf die Mondoberfläche eingesetzt

Das Objektiv 10 mm f0.95 (entsprechend photometrisch T1.1 !) wurde in großen Stückzahlen für Bell&Howell-Filmkameras vertrieben.

Es handelte sich um ein (8-linsiges) Doppelgauss-Objektiv (s. Bild oben).

1960 kam auch das 50 mm f0.95 (M1) dazu – ich habe aber im Blog „Street Silhouettes“ den Hinweis gefunden, dass es auch eigentlich ein Cine-Objektiv sein soll, das den Kleinbild-Bildkreis nur knapp auszeichnet. Das Buch von PONT bestätigt das: es ist für Cine 35mm gerechnet. Ich besitze das Objektiv selbst nicht und habe auch keine eigenen Erfahrungen damit. Wahrscheinlich läßt es sich nur an spiegellosen Kameras bis Unendlich fokussieren.

Aktualisierung 22.11.22:

Inzwischen konnte ich es mir nun allerdings von einem technisch begnadeten Foto-Freund, einem auf Objektive spezialisierten Sammler, leihen (s. unten stehendes Bild).

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Bild 7: Type M1 mit 50 mm Brennweite und Öffnungsverhältnis 1:0,95 (1960) –  von Foto-Freund „Phothograf“ aufgespürt und in eine Fokussiereinheit eingebaut – dies ist ein UNIKAT! – Source: fotosaurier

Damit war ich in der glücklichen Lage, die Bildfeldabdeckung aus erster Hand zu ermitteln und die optische Qaulität (mit IMATEST) zu messen:

Die Bildfeldabdeckung beträgt radial 86% der Kleinbild-Diagonale, das Objektiv hat also einen Bildkreis von ca. 37 mm! (s. Darstellung der Aufnahme damit am Test-Chart)

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Bild 8: Nutzbarer Bildkreis des Angénieux Typ M1 50 mm f/0.95 – Aufnahme der Meß-Test-Chart von IMATEST – Source: fotosaurier

Mit einem relativ geringen Crop-Faktor kann man mit dem Objektiv also durchaus am Vollformat-Sensor (oder Kleinbild-Analog-Film!) arbeiten.

Die von mir gemessenen optischen Leistungen des riesigen Glas-Klotzes sind nicht anders als SPEKTAKULÄR zu nennen. Inzwischen liegen die Messergebnisse für das 50er Angénieux „M1“  vor – gleichzeitig auch für das legendäre Biotar 50mm f/1.4 .

Für Kleinbild 24×36 mm wäre an einer SLR die Unendlich-Einstellung mit diesem Objektiv wohl ein Problem (außer bei der ALPA-Reflex!) – an einer spiegellosen Systemkamera ist das aber kein Thema.

Damit scheint Pierre Angénieux das Kapitel der ultra-lichtstarken Optiken hinter sich gelassen zu haben – mir sind auch für später keine weiteren hoch-lichtstarken Angénieux-Objektive bekannt.

Danach begann allerdings im internationalen Bereich das Rennen um die prestigeträchtigen hochlichtstarken Boliden für Kleinbildkameras erst richtig – zunächst noch für Meßsucherkameras: 1956 mit dem 50 mm f1.1 von Zunow und Nikon – Canon auch 1956 erst mit 50 f1.2 – und dann 1961 mit dem legendären 50 mm f0.95…mit Hilfe der Linsenvergütung nun alle mit erweiterten Doppel-Gauss-Modifikationen.

Erst in den 1970ern waren dann die Glassorten (z.B. mit anormaler Dispersion) verfügbar, um bei diesen „Lichtriesen“ wirklich gute Abbildungseigenschaften zu erreichen. Heute können sie „scharf“ bis zum Rand sein – hauptsächlich wegen des Einsatzes von asphärischen Linsen und auch immer neuer Glassorten.

c – Zoom-Objektive:

Die dritte Innovation des P.Angénieux nach weiteren drei Jahren – 1956 – war die bedeutendste und ebenso nachhaltig bis heute wirksame, wie das Retrofokus-Prinzip: das Zoom-Objektiv mit mechanischer Kompensation.

Wie die meisten Vorläufer-Entwicklungen für Objektive mit variabler Brennweite zielte auch diese primär auf cinematografische Anwendungen. Schon Ende des 19. Jh. gab es erste Ideen und Versuche mit Objektiven variabler Brennweite (Dallmeyer, USA). Allererste Anfänge lagen in Fernrohren mit variabler Vergrößerung (1880, Donders, Barlow). Die „Gummilinse“ war ja auch ein viel zu schöner Traum, um ihn NICHT zu träumen!

Erste optische Designs konnten durch Verschieben einer Linse oder Linsen-Gruppe die Brennweite variieren. Das Objektiv musste danach neu fokussiert werden. Ein kontinuierliches variieren mit konstanter Bildschärfe war nicht möglich.

1950 entwarf R.Cuvillier bei SOM Berthiot ein solches System mit optischer Kompensation, das Pan Cinor 20-60 mm f2.8 für das 16 mm Cine-Format. Diese erste professionelle Optik war weltweit sofort sehr erfolgreich (100.000 Pan Cinor in 1962 – es gab dann auch noch ein 17-85 f2). Es ist üblich, derartige Systeme als „Varifokal-Objektive“ zu bezeichnen, denn der Begriff „Zoom-Objektiv“ wurde erst später eben genau für das Angénieux’sche System geprägt. Nachdem sich Angénieux’ System durchgesetzt hatte, wurde das Pan-Cinor Anfang der 1970er Jahre eingestellt.

Angenieux hat als guter Mathematiker mit seinen Berechnungsmethoden schnell erkannt, dass das optische System des Pan Cinor auf maximal 4-faches Brennweitenverhältnis und mäßige Lichtstärken limitiert sein würde, was er für nicht ausreichend erachtete.

Er schuf ein „mechanisch kompensiertes“ Linsen-System, bei dem synchron und mechanisch exakt gesteuert, zwei Linsengruppen gleichzeitig „differentiell“ verschoben wurden: eine variiert die Brennweite („Variator“), die andere refokussiert gleichzeitig auf die konstante Fokal-Ebene („Compensator“). Auch dieses System hatte Vorläufer (Busch Vario Glaukar 25-80 und Cooke Varo 40-120 mm, alle für Cine-Anwendungen).

Bis heute beruhen alle Zoom-Objektive ausschließlich auf diesem Prinzip, das Pierre Angénieux durchgesetzt hat!

Auch hier will ich nicht unterschlagen, dass es auch Autoren gibt, die die Innovationsleistung  von Pierre Angénieux beim Zoom-Objektiv eher gering einschätzen: der britische Technik-Historiker Nick Hall sagt in seiner „Zoom Lens History“ (Zitat): „However, it would be a mistake to think that the Angénieux lenses represented a radical breakthrough: they were, instead, an incremental development, building on earlier devices (such as the Pan Cinor), and it seems unlikely that they would have caught on as quickly as they did in Hollywood had the Zoomar and Pan Cinor lenses not paved the way in film and television.“

Diese Aussage in Bezug auf das „Pan-Cinor“ ist falsch – der Rest des Satzes stimmt wohl insofern, als das Thema „ZOOM“ einfach schon lange im Raum stand – und dringend einer echten Lösung harrte – die Angénieux lieferte. Angesichts der Durchsetzung des Angénieux-Produktes und der Jahrzehntelangen technischen Überlegenheit der Angénieux-Zooms erscheint mir Hills Aussage unangemessen. Erneut eine Spitze eines britischen Autors gegen die französische Koryphäe? Ich habe noch nicht überprüft was Kingslake (den Hill sehr verehrt) zum Thema Angénieux-Zoom geschrieben hat…

Das 1956 vorgestellte und patentierte Objektiv war ein 17-68 mm T2.2 für das 16 mm Cine-Format. Es wurde ab 1958 ausgeliefert und veränderte in der Folge radikal die Bauform der Filmkameras. Schon 1961 wurde das 12-120 mm T2.2 ausgeliefert, das sofort massiv und weltweit für journalistische Arbeit, Reportage- und Dokumentations-Aufgaben eingesetzt wurde. Es wurde zum meistverkauften 16mm-Cine-Zoomobjektiv aller Zeiten.

Andere Zoom-Objektive für 16 mm-Cine-Format waren:

1963: 15-150 mm f/1.9-2.8 1964: 12-240 mm f/3.5-4.8 1965: 9.5-95 mm f/2.2 1966: 12.5-75 mm f/2.2 1967: 10-120 mm f/1.8 1967: 20-240 mm f/2.2 1971: 9.5-57 mm f/1.6-2.2 1977: 10-150 mm f/2-2.2 und 16-44 mm f/0.95-1.1

Schon 1962 folgte das 25-250 mm T3.2 für das 35 mm-Cine-Format, für das Angénieux bereits 1964 den ersten Academy-Award („Oscar“) erhielt. Es wurde in dieser Form 23 Jahre lang produziert ehe es 1985 durch das 25-250 mm f3.2-f4.0 abgelöst wurde. (Da hatte Pierre Angénieux sich bereits seit über 10 Jahren aus der Firma zurück gezogen… das, was er geschaffen hatte, war offensichtlich von Bestand – bis heute.)

Die totale Überlegenheit, die Angénieux mit diesen Zoom-Objektiven erreichte, wird durch die Tatsache verdeutlicht, dass der bedeutendste Konkurrent, Cooke, erst 1978 mit einem konkurrenzfähigen Objektiv heraus kam: dem Cooke Super Cine Varotal 25-250 mm f2.8.

Später gab es ein Rennen um die größte Zoom-Spannweite, die für TV-Kameras besonders nützlich war: hier hatte Angénieux gegenüber Berthiot stets “die Nase vorn“: 1976/77 mit 42-fach Zoom (speziell für die Olympischen Spiele in Moskau 1980 vorgesehen): 15-630 mm in einem Zoom! Dann 1994 mit 72-fach Zoom! Für militärische Zwecke (Fa. Raytheon, USA) wurden bereits zwei Exemplare eines 100x-Zooms (mit 3 Metern Baulänge!) im Jahr 1985 hergestellt!

Ein anderes, noch früheres 35mm-Zoom war das 35-140 mm T3.5, das bereits 1961 von Godard und Truffaut eingesetzt wurde, und für das sofort bei Erscheinen das Anamorphot-System („Franscope“) eines befreundeten Ingenieurs zur Verfügung stand. Später integrierte Angénieux selbst Anamorphot-Systeme in die eigenen Objektive.

Einer der bedeutendsten Kameramänner jener Tage, Willy Kurant, hat sich ausführlich über diese Konstellation geäußert (Lit.*): “I shot my first feature for Agnes Varda, The Creatures, in Black & White, Anamorphic, with a 35-140 mm Angénieux zoom converted to Franscope by the Fellous brothers and Dicop. Roger Fellous, who had worked with me as an assistant, came to my house to calibrate the lens on the camera. We used this one anamorphic lens for the entire movie. It was of excellent quality.“ An diesem Tag (30.03.2019), da ich dies hier schreibe, kam gerade die Nachricht, dass Agnes Varda mit 90 Jahren gestorben ist…

Schon längere Zeit als Sponsor auf den Filmfestspielen präsent, verleiht das Folgeunternehmen „Thales Angénieux“ jährlich seit 2013 einen Preis an Kamerafrauen und -männer: den „Pierre Angénieux ExcelLens in Cinematography Award“.

Willy Kurant hat an anderer Stelle festgestellt, dass gleich die allerersten Angénieux-Zoomobjektive  die gleiche Bildqualität wie gute Festbrennweiten lieferten. So war es konsequent, dass Angénieux die Fertigung von Festbrennweiten für Filmkameras schon bald einstellte – zumal dort ein sehr breites Angebot von Wettbewerbern existierte. Was liegt näher als sich voll und ganz auf das Gebiet zu konzentrieren, in dem man einzigartig und weltweit führend ist?

Zooms für Foto-Kameras:

Der enorme Erfolg der Cine-Zooms war sicher ein Grund dafür, dass Angénieux sich nun viel Zeit ließ, das revolutionäre neue System auch für Foto-Objektive bereit zu stellen. (Zuvor waren auch schon sehr lange keine neuen Festbrennweiten für SLR-Kameras heraus gekommen.)

Dadurch hatten andere Hersteller die Gelegenheit, dieses Terrain früher zu erschließen, wie Voigtländer mit dem Zoomar 36-82 mm f2.8 (1959) oder Nikon mit dem 43-86 mm f3.5 (1963). Beides meines Wissens allerdings noch Vertreter der Vorläufer-Generation der Varifokal-Objektive (mit optischer Kompensation).

Erst 1968 brachte Angénieux das legendäre erste 2-fach Zoom auf den Markt (10 Jahre nach dem ersten 4-fach Zoom für Cine 16 mm). Das 45-90 mm f2.8 wurde bis 1982 ausschließlich für Leica SL-(bzw. R-)Anschluss gebaut.

Erst 1982  kam das 35-70 mm f2.5-3.3 für alle wichtigen SLR-Anschlüsse heraus, ergänzt im gleichen Jahr durch das 70-210 mm f3.5. Etwa gleichzeitig (1986) wurden noch einmal zwei lichtstarke Teleobjektive ausgeliefert (180 mm f2.3 DEM Apo und 200 mm f2.8 DEM ED), um die fabelhaften Möglichkeiten der neuen ED-Gläser im Tele-Bereich zu nutzen. DEM (=Differentiel Element Movement) war eine spezielle Form der Innenfokussierung, die praktischerweise von den Zooms übernommen werden konnte.

Für das erste Foto-Zoom 45-90 mm berichtet Patrice-Hervé Pont in seinem Buch „angénieux – made in Saint-Heand, Loire, France“ ausführlich den besonderen Hintergrund:

Speziell in Deutschland galt unter Fachkundigen (und das war natürlich jeder, der einen Auslöser durchdrücken konnte) in den 1960er Jahren, dass kein Zoom-Objektiv (ja, auch ich sprach damals nur von „Gummilinsen“!) nur annähernd an eine Festbrennweite heran kommen kann… Pont nennt es in seinem Buch die „doctrine allemande“. Ich kann diese Darstellung wirklich nur bestätigen. In der Folge hat Leica für seine Leicaflex strikt auf Zoom-Objektive verzichtet und kam, als die europäischen Hersteller um 1964 zunehmend unter den Druck der japanischen Hersteller gerieten, dadurch noch verstärkt in Not. Angénieux erkannte dies und bot Leica ein damals gerade durch André Masson  (quasi als „Privat-Projekt“) erarbeitetes Foto-Zoom 45-90 mm an. Zu diesem Zeitpunkt war Angénieux schon kein Unbekannter Name im Hause Leitz: so wurde an der 8mm-Filmkamera „Leicina“ bereits ein Angénieux-Zoom 7,5-35 mm eingesetzt. Man wurde einig und lancierte das Foto-Zoom für die Leicaflex exklusiv mit einer speziellen Leica-Ästhetik der Fassung ausgestattet. 12 Jahre lang wurde es geliefert – auch für die Leica R3 (Minolta-Leica) SLR.

1990 gab es während der Dämmerung des Autofokus-Zeitalters noch einmal ein neues 28-70 mm f2.6 Zoomobjektiv mit Autofokus, gebaut für Leica R, Minolta, Nikon, Canon.

Die neuen „Foto-Offensiven“ – intern ab 1964, besonders von André Masson gefördert – führten allerdings zu keinem wirtschaftlichen Erfolg. Sie fielen gerade in die Zeit, in der die europäischen Kamera-Hersteller – großenteils verschuldet durch eigene Fehler! – rasant das Terrain gegen die japanischen Hersteller verloren. Zwar bot Angénieux die neuen Zooms und Teles auch für alle wichtigen Japanischen SLR-Kameraanschlüsse an – die Käufer dieser waren aber sehr preis-getrieben. Die Stückzahlen der Angénieux-Spitzenprodukte waren viel zu gering, um damit Geld zu verdienen: 2.000 Stück gesamt vom 45-90 mm (in 12 Jahren!!!), 15.000 vom 35-70 mm, 10.000 vom 70-210 mm, ca. 4.000 vom 28-70 mm. Die damit (und anderen Projekten, die nicht gut liefen) verbundenen hohen Verluste brachten Angénieux erstmals in wirtschaftliche Bedrängnis. Essilor stieg zunächst 1986 als Merhheitseigner (60%) ein – die Synergien reichten aber nicht.

Dann wurde zwischen 1992-1994, also etwa zeitgleich mit der Übernahme der Firma durch Thales, die Fertigung aller SLR-Kleinbild-Fotoobjektive eingestellt.

Man darf nicht übersehen, dass der Nutzen des Zooms für den Film immens viel größer war als für die Fotografie… Die Existenz des Zooms mit hoher Bildqualität hat sogar die Bauweise der Filmkameras drastisch verändert – und die Arbeitsweise an der Kamera und den Stil der Bilder sowieso. Dieser Effekt ist beim Fotografieren viel geringer – man könnte fast sagen: marginal. Wenn man von der reinen Bequemlichkeit bei Reportagen und auf Reisen mal absieht, gibt es eigentlich keinen „Foto-Bildstil“, der die Nutzung eines Zoom-Objektivs voraussetzt – wenn man einmal von dem manieristischen „Effekt“ des Zoomens während der Belichtung absieht…

Fazit: Dass der Name Angénieux heute in der Fotografie-Szene so relativ unbekannt ist, liegt wohl auch daran, dass das Unternehmen sich bereits vor über 25 Jahren aus dem Segment „Foto“ zurückgezogen hat. Ich hoffe, mein Beitrag macht deutlich, dass es aus dem Blickwinkel der Geschichte der optischen Technik unangemessen ist, das Werk dieses Mann in Vergessenheit geraten zu lassen.

Vielleicht müssen „Fotosaurier“ wie ich mehr dazu tun, die Erinnerung an die wesentlichen Innovationsprozesse der Vergangenheit wach zu zu halten. Ich will versuchen, meinen bescheidenen Beitrag dazu zu leisten.

Zeit-Tabelle Angénieux

 

Meine Quellen zum Thema „Angénieux“:

Die Quellenlage zu Informationen über den Menschen Pierre Angénieux und das Unternehmen sind – gemessen an ihrer Bedeutung – mehr als dürftig. Besonders bei den primären Quellen herrscht weitgehend Fehlanzeige. Da die meisten von uns heute zuerst in die Wikipedia schauen, wird das dort auch deutlich: sowohl in der deutschen und englischen und sogar in der französischen Wikipedia sind die Artikel über Mensch und Unternehmen kurz und dürr. Der Bereich der Zusammenarbeit mit der NASA im Raumfahrtsektor nimmt meist einen unangemessen großen Raum ein. Das sind spektakuläre, medienwirksame Ereignisse. Die wirkliche Bedeutung und Wirkung der Innovationen von Angénieux, vor allem in Film-Bereich, wird aus diesen Wikipedia-Artikeln nicht so richtig sichtbar – auch nicht in der französischen Wikipedia. Vielleicht sollten diese Artikel einmal aktualisiert werden…

Vor ein paar Jahren stieß ich auf eine französischsprachige Monografie über Angénieux in Buchform:

„angénieux – made in Saint-Heand, Loire, France“,  Autor: Patrice-Hervé Pont, Editions du Pécari, 2003.

Dieses französischsprachige Buch stellt die Produkte von Angénieux „enzyklopädisch“ und geordnet nach Anwendungsgebieten dar. Viele Detail-Informationen habe ich daraus entnehmen können. Wer Informationen über die bekannten und dokumentierten Produkte aus dem Hause Angénieux sucht, wird hier fündig. Systematisch und detailliert werden alle Objektiv-Typen, ihre Entwicklung über die Jahre, Technische Daten der wichtigsten Produkte bis hin zur Nomenklatur und Objektiv-Nummern behandelt.

Die Monografie ist gewissermaßen von der Firma Angénieux autorisiert, denn der ehemalige Generaldirektor André Masson hat das Vorwort geschrieben.

Ich habe mich über die Jahre durch eine große Zahl von Zeitschriften-Artikeln gepflügt – die ich nicht alle hier auflisten möchte (einige sind in den Wiki-Artikeln aufgeführt), da sie auch meistens nur aus Sekundär-Quellen zitieren.

Neben der Pont-Monografie die wesentlichste Veröffentlichung, die ich hier aufführen kann (und die für den Film-Bereich praktisch alle anderen ersetzen kann) ist die folgende Quelle:

http://www.fdtimes.com/pdfs/articles/angenieux/FDTimes-Angenieux-Special-IBC-Sept2013.pdf

Das kann ich wärmstens empfehlen!

Darüberhinaus ist die Website von Nick Hall über die Entstehung der Zoom-Objektive interessant:

https://www.zoomlenshistory.org.uk/showcase-page/

Mit einer seiner Aussagen habe ich mich im Text kritisch auseinandergesetzt.

Zur Entwicklung der Retrofocus-Objektive aus der Sicht von Zeiss Oberkochen kann man bei dieser Quelle nachlesen:

Klicke, um auf Nasse_Objektivnamen_Distagon.pdf zuzugreifen

Im Juni 2019 erschien eine neue Monografie in Englisch und Französisch: „Angénieux and the Cinema, From Light to Image“ – Autor Silvana Editoriale, das ich hier noch nicht auswerten konnte.

Copyright Fotosaurier, Herbert Börger

Berlin, im August 2019

Dieser Artikel ist in gekürzter Fassung im Online-Fotojournal „fotoespresso“ 4/2019 erschienen.

Bild von Pierre Angénieux mit freundlicher Genehmigung der Firma Thales-Angénieux.