Zu Leben und Werk von Pierre Angénieux finden Sie bei mir einen eigenen Text hier: Pierre Angénieux -. Sternstunden der Foto-Optik.
Die Optik mit Festbrennweite 90mm behandle ich hier.
Die Optik mit Festbrennweite 35mm behandle ich hier.
Die Optik mit Festbrennweite 24mm behandle ich hier.
B – Angénieux Retrofocus 28mm f3,5 (R11) von 1953: Mit Alpa-Anschluss wie die meisten anderen meiner Angénieux-Festbrennweiten. Diese Optik wurde auch im gleichen Jahr schon ausgeliefert, in dem das 35er richtig in Großserie anläuft. Es hatte 1951 bereits einen Prototypen mit f2.8 gegeben, dessen Aufbau aber wieder fallen gelassen wurde. Tatsächlich ist der Linsenschnitt gegenüber dem 35mm f2.5 wesentlich geändert – mit 6 Einzellinsen.
Der früheste Wettbewerber dazu tauchte meines Wissens in der BRD 1956 mit dem Ultra-Lithagon 28mm f3.5 von Enna auf (ebenfalls 6 freistehende Einzellinsen). Das entsprechende ISCO-Westron 28mm f4.0 taucht erst 1961 auf – 3 Jahre nach dem Westron 24mm f4.0!
Zeiss Jena und Zeiss-Ikon West haben beide diese Brennweite 28mm damals nicht „bedient“ – dafür war in der DDR Meyer-Optik Görlitz zuständig (bis auch dieser ruhmreiche Name in dem Großkonzern „Pentacon“ unterging). Dort brauchte man noch etwas Zeit – das Lydith 30mm f3.5, für das schon 1958 Schutzschriften eingereicht war, wurde schließlich erst 1963 ausgeliefert. Mit Patent von 1964 folgte dann das Orestegon 29mm f2.8 (7-Linser) – später hieß es Pentacon 29mm f2.8.
Die japanischen SLR-Hersteller waren ja gerade dabei, ihre Systeme aufzubauen: ein Nikkor 28mm f3.5 gab es erst 1959, ein Auto-Takumar 28mm f3.5 erst ab 1962. Canon baute 28er erst ab der Einführung des FL-Bajonetts (1964).
Außer den beiden Meyer-Optiken besitze ich keine weiteren frühen Objektive in diesem Brennweitenbereich.
Ich war später kein großer Anhänger des Brennweitenbereiches 28mm, weshalb ich auch kein entsprechendes Leica-Exemplar besitze und auch keine wirklich moderne 28mm-Linse. Ausnahme ist die der Zeit um 1975/80, als erste lichtstarke Typen aufkamen (siehe Vivitar Serie1). Wie man der Tabelle entnehmen kann, können Zooms bis f2.8 heute die Funktion gut übernehmen – man muss dann deren Größe allerdings in Kauf nehmen wollen.
Dagegen gestellt:
- Meyer-Optik Goerlitz Lydith 30mm f3,5 (1958/60/63)
- Meyer-Optik (Orestegon) Pentacon 29mm f2,8 MC (1964)
- Olympus OM 28mm f2,8 (1973)
- Vivitar Serie1 28mm f1,9 (1975)
- Contax G Zeiss Biogon 28mm f2,8 (1994)
- Canon EF 28mm f1,8 (1995)
- Extra: Tamron Zoom 28-75mm f2,8 bei 28mm (2018)
Hier der Auflösungsvergleich als Tabelle:
Bei dem Angénieux Retrofocus 28mm f3.5 ist – nun bei 75° Bildwinkel – die Auflösung im Vergleich zum 35mm-Objektiv in Rand/Ecke geringfügig reduziert (auch abgeblendet – bei Offenblende liegt die Ecke jetzt bei 31 Linien/mm). Aber die Auflösungswerte sind exzellent für den zeitgenössischen Analog-Standard. Die Verzeichnung ist noch einmal verringert bei jetzt besseren CA-Werten. Tatsächlich ist die Verzeichnung mit Abstand die geringste mit allen 28mm-Vergleichsobjektiven in meinem 28mm-Vergleich.
Wieder kann man sagen, dass der allgemeine Stand der Technik erst Anfang der 1970er Jahre wirklich über das Angénieux hinaus geht: das Olympus OM 28mm f2.8 ist in diesem Vergleich die neue Landmarke (ab 1973) für die nächsten 20 Jahre.
Das Vivitar Serie1 28mm f1.9 erreicht bei Blende 2.8 übrigens ziemlich genau die Auflösungswerte des Olympus 28mm f2.8 und hat darüber hinaus noch die Besonderheit des „floating element“ Designs. Tatsächlich wude es damals von Modern Photography in höchsten Tönen gelobt:
Dabei wird die Schwäche mit „flare“ bei voller Öffnung (Streulichtanteile von überkorrigiertem farbneutralem Astigmatismus, die bei Blende 4 praktisch verschwinden) erwähnt, die man an der MTF-Kuve unten auch sehen kann.
Das ContaxG Biogon 28mm f2.8 (tatsächlich einmal ein 28er von Zeiss… 1994) ist im Aufbau ein Meßsucher-Objektiv, auch wenn die Kamera automatisch fokussiert! Die extrem schlechten Rand/Ecken-Auflösungswerte dieses Objektivs sind nicht real: durch den sehr nah an die Filmebene heran reichenden hinteren Linsenscheitel (kleine hintere Schnittweite) ist dieses Objektiv nicht geeignet für einen digitalen Sensor wegen der am Rand extrem flach auf den Sensor einfallenden Strahlen. Das ist aber heute bereits weitgehend bekannt – alle Biogone sind an Digitalsensoren sehr schwach im Außenbereich des Bildfeldes.
Das 1995er Canon EF 28mm f1.8 (1995) ist noch nicht eine Optik auf dem heutigen Stand der Technik. Es ist in fast allen Auflösungswerten schlechter als das über 20 Jahre ältere Vivitar Serie1 ! Nur Chroma und Verzeichnung sind etwas besser. Ich kenne den Grund nicht. Es gehört eben nicht der L-Klasse an … Aber es gibt auch Positives zu berichten: Die optimale Blende ist bereits bei f8 erreicht. An der MTF-Kurve kann man erkennen, dass das Objektiv bei niedrigen Frequenzen einen deutlich höheren Bildkontrast liefert als die älteren Systeme. Trotz der schwächeren Auflösung im höheren Frequenzbereich wirken die Bilder daher insgesamt „knackiger“. Auch die Kantenschärfe ist verbessert.
Die ganz große Überraschung des Vergleiches ist das frühe Meyer-Optik Lydith 30mm f3.5 von 1958: die Auflösungsleistung in der Bildecke ist zeitgenössisch gesehen überragend. Es ist ein 5-Linser!!! und bei Offenblende eine Klasse besser als der 7-Linser „Orestegon 29mm f2.8“ – und auch besser als das Angénieux! Die Schwäche der 29er Optik läßt sich vielleicht nach „zeissikonveb.de“ daraus erklären, dass aus Preisgründen überwiegend (6 von den 7 Linsen!) 30er-Jahre-Glastechnologie zum Einsatz kam. Zur Ehrenrettung muss man sagen, dass das Orestegon bei Blende 4 die Werte des Lydith bei Blende 3.5 erreicht oder übertrifft und die CA-Werte und die Verzeichnung deutlich verbessert sind. Das Lydith überragt noch ein ganzes Jahrzehnt die üblichen (meist japanischen) „third-party-lenses“, wie das „normale“ Vivitar 28mm f2.5 in diesem Vergleich – und das war eines der besseren Fremdobjektive.
Fazit: Wieder kann man sagen, dass dieses Angénieux 28mm ein Spitzenobjektiv seiner Zeit ist – mit sehr langer „Halbwertzeit“ bezüglich des Standes der Technik. Es wurde dann ja auch in dieser Form bis 1971 geliefert – 18 Jahre lang. Einen Nachfolger gab es nicht.
Ich weise darauf hin, dass die Auswahl der Vergleichsoptiken nicht marktrepräsentativ ist sondern sich aus dem Bestand meines Objektivbesitzes ergab. Ein wirklich „modernes“ 28er Objektiv war diesmal nicht dabei – außer dem Tamron-Zoom mit den wirklich erfreulichen Werten.
Untenstehend sehen Sie die einzelnen Meßergebnisse der relevanten Optiken bei Offenblende und bei optimaler Blende:
Die Festbrennweite 24mm behandle ich im folgenden Text.
Copyright Fotosaurier, Berlin, 4. März 2020