Autor: fotosaurier, Berlin, 13. Februar 2020
Dieses Objektiv wurde ab 1951 (oder 1954 … verschiedene Angaben) ausgeliefert.
Für alle, die den Namen Angénieux kennen, gehören diese Objektive zu den legendären historischen Foto-Produkten, die nicht nur zeitgenössisch an der Spitze lagen sondern auch führend und innovativ gegenüber dem Wettbewerb einzustufen waren.
Über Pierre Angénieux und die Firma können sie hier meinen Überblick-Artikel lesen: https://fotosaurier.de/?p=1243sternstunden-der-foto-optik-pierre-angenieux
Soweit das Vorurteil! … aber stimmt das auch? – und was kann man davon anhand von 50-70 Jahre alten gebrauchten Objektiven heute noch feststellen?
Alle Objektive, die ich hier untersuche, besitze ich. Ich will hier nicht mit meinen Testbedingungen langweilen sondern habe das Thema in einen eigenen Artikel „ausgelagert“. Im Prinzip und kurz umrissen: ich fotografiere mit den Objektiven , die ich an die jeweilige Digitalkamera (Sony A7Rm4 oder Fujifilm GFX100 im 35mm-Modus – beide ca. 60 MP) adaptiere, eine Original-IMATEST-Chart (SFRplus) unter möglichst kontrollierten Bedingungen ab und analysiere sie mit der IMATEST-Software. Mehr dazu unter diesem Link.
Als optische Qualitätsmerkmale ziehe ich heran:
- MTF-Kurve (MTF-Wert über Frequenz)
- Radiale MTF-Verteilung (MTF30-Auflösung über Abstand von der Bildmitte)
- Mittlerer, gewichteter Wert MTF20/MTF30/MTF50 (über gesamte Bildfläche)
- Kantenprofil und CA (Bildmitte, lokal)
- Chromatic Aberration R-G, B-G radial über die gesamte Bildfläche (nur in ausgewählten Fällen)
Als Auflösungswert benutze ich grundsätzlich Linienpaare per Bildhöhe (LP/PH). Die Bildhöhe ist hier immer 24 mm (Querformat). Nach meinen Erfahrungen ergeben die Auflösungswerte der MTF30 den realistischsten Vergleichswert für die allgemeine bildliche Fotografie.
Mein persönliches Interesse liegt dabei hierauf:
- welche optischen Leistungen besitzt ein historisches Objektiv?
- wie liegt diese im Vergleich zu zeitgenössischen anderen Objektiven?
- wie sieht der Vergleich zu den neueren und modernsten Optiken von heute aus?
Auf die Problematik, dass man da bis zu 100 Jahre alte, gebrauchte Objektive gegebenenfalls fabrikneuen, modernen gegenüber stellt, gehe ich in meinem Beitrag zu meinen Testmethoden näher ein. (Nobody’s perfect!)
Ich erstelle diese Testergebnisse bei allen Blenden (bis max. f16) und stelle hier im Vergleich die Auflösung in der gesamten Bildebene für die jeweils „optimalen Blende“ dar – die natürlich zwangsläufig einen Kompromiss aus verschiedenen Eigenschaften darstellt. Im Laufe der Optik-Geschichte hat sich die für die Auflösung (und deren Konstanz über die Bildebene!) günstigste Blende ständig weiter zu größerer Blendenöffnung (kleinere WERTE) verschoben. Die ältesten Objektive (bis ca. 1965) wurden beim Abblenden meist bis zu Blende 11 immer besser in der Auflösung und Kontrast – in Ausnahmen noch weiter. Allerdings war die „Kantenschärfe“ auch damals meistens schon optimal bei Blende 5,6. Bis in die 80er Jahre liefert dann Blende 8 die beste Auflösung – später Blende 5,6. Heutige (meist asphärische) Optiken können schon bei Blende 2,8 bis 4,0 ihre höchste Auflösung erreichen. Dies habe ich hier berücksichtig und die Test-Blende entsprechend gewählt.
In der linken Spalte jeweils die Auflösung (Linienpaare/Bildhöhe – LP/PH bei MTF30, also dem MTF-Wert bei 30% Kontrast!) über der Distanz von Bildmitte (0) bis zur Bildecke (100). Die Nyquist-Frequenz des Sensors entspricht stets der Wert 3168 LP/PH (Linien-Paare, nicht Linien!). Zusätzlich zur Auflösungskurve ist die Auflösung bei MTF30 getrennt für tangentiale und sagittale Strukturen als „gewichtetes Mittel“ über die ganze Bildfläche angegeben.
Verwendet wurden handelsübliche Adapter an den Sony-E-Mount – diese sind vielleicht die größte (mechanische) Fehlerquelle innerhalb dieser Tests.
—> Hinweis: Diese Untersuchungen an älteren und gebrauchten historischen Objektiven liefert Messergebnise für das Auflösungsvermögen, Verzeichnung und Chromatische Aberrationen der jeweiligen Objektive unter reproduzierbaren und kontrollierten Beleuchtungsverhältnissen (genormte, reflexfrei beleuchtete Chart). Das bedeutet nicht, das das jeweilige Objektiv unter allen denkbaren REALEN Lichtverhältnissen an der Digitalkamera entsprechend hochwertige Bildergebnisse erzielt – besonders im Gegenlicht können Streulicht und andere unangenehme Effekte auftreten, die bei jedem Digitalsensor unterschiedlich sein können!
Kamera ist hier die Sony A7RMark4 mit 60 MP.
Ich beginne mit meinem ältesten Nachkriegsobjektiv (die Retrofocus-Objektive und die Zooms werden in jeweils eigenen Artikeln besprochen werden):
Angénieux Porträt-Tele 90mm f2,5 von 1951 (Alpa-Anschluß): es ist, wie die meisten der Vergleichsobjektive (Ausnahme Kinoptik und Apo-Macro-Elmarit), auch ein Ernostar-Typ (vier freistehende Linsen) – die Sonnare sind ja auch ein (ebenfalls von Bertele) weiterentwickeltes Ernostar… und das Olympus sehe ich als eine Art „Hybrid“ aus Gauss-Typ und Sonnar.
Dagegen gestellt:
- Ur-Ernostar 100mm f2,0 (1923)
- Kinoptik Apo 100mm f2,0 (ca. 1950)
- Canon Rangefinder (M39) P 85mm f1,8 (1960)
- Zeiss Sonnar 85mm f2,0 (Contarex 1961)
- Vivitar Serie1 90mm f2,5 Macro (ca. 1977)
- Leitz Apo-Makro Elmarit 100mm f2,8 (1987)
- Zeiss Sonnar für Contax G 90mm f2,8 (1994)
- Leica M Apo-Summicron ASPH 90mm f2,0 (1998)
- State-of-the-art: Sony GM 85mm f1,4 (Spiegellos, E-Mount, 2018)
Sorry – das sind eine Menge Daten – und es sind einige „LEGENDEN“ darunter! Wichtig war mir, die beiden „Rangefinder“-Optiken (Canon M39 und Leica M) mit einzustreuen, da ja eine weitere Legende lautet: Messsucher-Kamera-Objektive sind grundsätzlich besser als die SLR-Optiken…
Für die, denen „Contax G“ kein Begriff ist: Eine geniale, späte (und sehr schöne!) Messsucher-Kamera von Kyocera die (1994!) mit Autofokus ausgestattet war – einige der Objektive dazu gehören zu den besten, die je gebaut wurden – und sogar ein Hologon 16mm wurde dieser Kamera spendiert (eine eigene Legende). Aber Biogon 21mm und Hologon 16mm sind an Digitalsensoren nicht brauchbar (zu kurzer Abstand der letzten Linse zum Sensor – zu flacher Strahleneinfall).
Hier die von mir gemessenen Auflösungsdaten dieser Optiken in einer Tabelle:
Wie schon erwähnt sind die MFT30-Auflösungswerte in der Hauptspalte 4 ein gewichtetes Mittel über die gesamte Bildfläche! (Zentrum Gewicht 1, Übergang Gewicht 0.5, Ecken Gewicht 0.25). Angegeben sind bei jedem Objektiv die Werte für Offenblende und die optimale Blende (bei den ältesten und auch beim Angénieux sind das Blende 11, je jünger die Optik, desto weiter geöffnet wird das Optimum erreicht!). Siehe auch Artikel über das Testverfahren.
Da es bei älteren Optiken erheblichen Randabfall der Auflösung gibt, habe ich die Mittelwerte NUR für das Bild-Zentrum und NUR für alle Bild-Ecken (ohne Gewichtungsfaktor!) hinzugefügt (Spalten 5 + 6).
Wenn ein Objektiv nicht perfekt zentriert ist, können am Rand oder in ein oder zwei Ecken ziemlich niedrige Werte auftreten – diese sind in die Mittelwerten hier mit eingegangen – die ziehen also das Gesamtergebnis deutlich RUNTER!
Beruhigend für mich war, dass das modernste Objektiv, das auch noch vom Hersteller für genau diesen Sensor entwickelt wurde (Sony GM 85f1,4) tatsächlich – und schon bei f4,0 – das Beste ist und der Mittelwert bei 98% der Nyquist-Frequenz der 60 MP-Kamera liegt – wofür hätte ich sonst das viele Geld hingelegt? (…auch ist das Objektiv im Zustand ja praktischt neu und wird ohne Adapter benutzt!)
Aber nun zu unserem Kandidaten Angénieux 90mm f2,5:
Der Veteran, der ja bis zu 69 Jahre alt sein könnte, mit Gebrauchsspuren, Putzspuren, Staub in der Optik und einer der ersten „Nachkriegsvergütungen“, erreich im Maximum (f11) einen Mittelwert von 85% Nyquistfrequenz über die gesamte Bildfläche (2.708 LP/BH) und in der von mir gewählten Vergleichsgruppe (praktisch alles Optik-LEGENDEN!) dauert es 26 Jahre, bis ein 90er Objektiv erscheint (VivitarSerie1 90f2,5), das das Angénieux in der Maximalauflösung übertrifft. Das zehn jahre später (1961) herausgekommene Zeiss Sonnar 85mm f2.0 zur Contarex ist in der Auflösung nicht besser – bei Offenblende f2.0 zeigt es eine Schwäche in der MTF-Kurve, die bei sehr niedrigen Frequenzen (links im Diagramm) relativ steil abfällt. Nach dem VivitarSerie1 gibt es in meiner Sammlung erst 40 Jahre später ein Objektiv, das dieses übertrifft! (Das Apo-Makro-Elmarit 100 übertrifft es nur bei Offenblende.)
Die größten Fortschritte in der Foto-Optik wurden seit den 1950er Jahren ganz offensichtlich in der Offenblenden-Auflösung und dem Randabfall (bei niedrigen Blenden) gemacht.
Im Anhang kann man Messkurven einiger der Objektive ansehen.
Hier die Darstellung der einzelnen Messpunkte bei der optimalen Blende (f11) am Angénieux 90mm. Hier sind die Auflösungswerte am Rand durchgängig (und sehr symmetrisch) etwas höher als in der Mitte:
Ich habe das neu fokussiert überprüft – offensichtlich ist es kein Zufall sondern in der Schärfe-Ebene tatsächlich reproduzierbar.
Eines der Meßergebnisse am Angénieux 90mmf2,5 ist aber in hohem Maße überraschend für ein Objektiv jener Zeit: die Chromatische Aberration (Farbfehler). IMATEST unterscheidet nicht zwischen Längs- und Quer-Farbfehler sondern misst den in der Bildebene auftretenden visuellen Farbfehler. (Das Apo-Kinoptik kann da nicht im Entferntesten mit halten – es hat einen 20-fach größeren Farbfehler als das Angénieux…)
Hier Vergleichsdiagramme für sechs dieser Optiken (1951 und jünger): das zeitgenössische Contarex-Sonnar hat einen ca. 2,5-fach größeren Farbfehler, das nagelneue SonyGM ist graduell besser .. hier ist allerdings die eigentliche Sensation das VivitarSerie1 mit Farbfehlern nahe Null! Achtung: die Ordinaten-Maßstäbe in den Grafiken sind leider nicht gleich… bitte links auf die vetikale Achse schauen!
Fazit:
Angesichts der guten Auflösungsergebnisse auch über das ganze Bildfeld und der extrem guten CA (nicht nur für diese Zeit) war das Angénieux ein herausragendes optisches Produkt. Die optischen Berechnungsmethoden, die Angénieux während des Weltkrieges entwickelt hatte, sollen ja (manuell!) 10-fach zeitlich effektiver gewesen sein, d.h. dort konnte man in gleicher Zeit 10-mal mehr Varianten berechenen, um die beste Lösung zu finden! Das vorliegende Ergebnis widerspricht dem nicht… Das Modell wurde bis 1968 geliefert (für Alpa alleine – in Fassung „E4“ – wurden 1.500 Stück gebaut). Der Kompromiss, den Angénieux machte, um diese exzellenten Leistungen zu erzielen, lag offensichtlich darin, dass er -1,0% Verzeichnung zuließ! Für ein Portrait-Objektiv kein wirklich großes Problem.
Das Angénieux 90mm f2.5 für Alpa (daher die Alpa-interne-Bezeichnung „Alfitar„) ist der zweite Typ mit 90mm Brennweite: Typ Y12. Es ist ein Vierlinser – 4 freistehende Linsen, Ernostar/Sonnar-Typ – mit einer Nachkriegs-Einschicht-Vergütung. Die Verarbeitung (Voll-Metall-Fassung, vernickelt) ist olympisch und auf ewige Haltbarkeit ausgerichtet. Die Glasflächen meines Exemplars entsprechen im Zustand natürlich dem Alter von fast 70 Jahren – aber gut gepflegt, wenig Putzspuren, kein Schleier.
Gegenüber gestellt sind in der Auflösungs-Tabelle und in Kurven im Anhang (s. unten) andere Legenden der Foto-Optik im zeitlichen Abstand von jeweils 7 – 20 Jahren bis hin zum State-of-the-Art-Boliden von Sony (2018), der 11 Linsen und Nanobeschichtung (und 11 Blendenlamellen) hat!
Wenn man sich die Auflösungsmessungen an guten Optiken der letzten 100 Jahre ansieht, dann stellt man fest, dass die axiale Auflösungsleistung (Bildmitte) praktisch auch mit manueller Berechnung (bis Ende der 1950er Jahre) fast „beliebig“ gut sein konnte – jedenfalls höher als jede analoge Filmemulsion (für normale bildnerische Zwecke) sie jemals ausnutzen konnte. Bei dem fast hundert Jahre alten Ernostar 100mm f2.0 erreicht bei Offenblende die Auflösung in der Mitte bereits die Nyquist-Frequenz der 42 MP Sony A7Rm2.
Der technische Fortschritt in den Linsenkonstruktionen durch neue Gläser und Asphären (bei großen Aufnahmeentfernungen!) drückt sich bezüglich der Auflösung weitgehend an den Rändern und in den Bildecken des Formates vor allem bei Offenblende aus, aber auch darin, dass die optimale Auflösung bei deutlich offenerer Blende erreicht wird. Aber Auflösung ist nicht alles!
Der Fortschritt in der Optik wirkt sich auch in Bezug auf höheren Kontrast bei den niedrigen Frequenzen über die ganze Bildfläche aus. (Zum letzteren trägt erheblich auch die immer raffiniertere Vergütung der Glas-Luft-Flächen bei.) Diese Kontrasterhöhung im niedrigen Frequenzbereich läßt die Bilder „knackiger“ aussehen. In den MTF-Kurven wird dieser Umstand sichtbar dadurch, dass die Kurve nicht von Frequenz Null (Kontrast = 1 ) linear bis zur Nyquist-Frequenz abfällt, sondern DEUTLICH darüber bleibt – sichtbar als „Bauch nach oben“ zwischen 0 und 2000 LP/PH. Moderne Objektive haben in diesem Bereich einen mehr oder weniger langen HORIZONTAL verlaufenden Bereich der MTF-Kurve, der sogar noch über den Wert 1 nach oben gewölbt sein kann (siehe Sony GM 85mm und Apo-Summicron-M 90mm bei Blende 5,6 im Diagramm ganz unten). Das Angénieux 90mm f2.5 besitzt einen sehr ausgewogenen MTF-Kurvenverlauf offen und abgeblendet (damals hatte auch Ang. schon MTF-Messungen eingesetzt!). Einen „Bauch“ in der MTF-Kurve hat sogar schon das alte Ernostar 100 f2.0, und as VivitarSerie1 90mm f2.5 (1977) hat sogar auch schon einen kleinen „Überschwinger“ über den MTF-Wert 1. Es hat außerdem die höchste Auflösung aller Objektive mit 85 – 100 mm Brennweite, die ich bisher gemessen habe (mit Ausnahme des nagelneuen Sony GM 85mm f1.4 von 2018) und dabei Verzeichnung Null und CA nahe Null (über ganze Bildfläche). Ein Ausnahme-Objektiv seiner Zeit (… und massiv wie ein Panzer). Schon Modern Photography hatte es seinerzeit als das „best ever“ gefeiert.
Noch eine kurze Anmerkung zu den drastisch geringeren Ecken-Auflösungen bei Offenblende der Objektive aus den 20er bis 60er Jahren – verglichen mit ihrer hohen zentralen Auflösung. Ecken-Auflösungswerte von 500 – 600 Linienpaaren pro Bildhöhe bedeuten ca. 40-45 Linien/mm in der uns früher geläufigen Zählweise. Wenn man sich Testergebnisse aus den 60er und 70er Jahren ansieht (Modern Photography), so werden dort bei Offenblende Werte von 45 Linien/mm am Rand als „Excellent“ bewertet, selbst im Zentrum erreicht kaum ein Objektiv mehr als 80 Linien/mm. „Minimum-Standards“ (=“Acceptable“) lagen in den Ecken bei 20 – 36 Linien/mm. Nach meiner Auffassung war auf Analog-Filmemulsion die nutzbare Auflösungsgrenze bei ca. 1.200 LP/BH (35mm-Film) – und das entspricht genau 100 L/mm.
Das heißt, auch: die alten Optiken, deren Auflösungswerte bei Offenblende am Rand hier sehr schwach aussehen (Ernostar, Angénieux, Contarex Sonnar), sind damit in der Praxis normaler Bild-Fotografie schon sehr gut.
Anhang: